Bewertung: 4.5 / 5
Die Welt, wie wir sie kennen, ist schon längst nicht mehr vorhanden. Pläne, der Klimaerwärmung Herr zu werden, misslangen kläglich. Die Welt versank in Eis und Schnee, eine kalte, unwirkliche Hölle entstand. Während Städte untergingen und der größte Teil der menschlichen Zivilisation umkam, konnte sich nur eine Handvoll Menschen retten. In einem Zug - dem Snowpiercer - umrunden sie Jahr für Jahr die Welt und innerhalb dieses Zuges hat sich eine neue Gesellschaftsordnung entwickelt. Während im vorderen Teil der Erfinder Wilford (Ed Harris) samt elitärer Gesellschaft lebt, sind die hinteren Abteile von Armut geprägt. Angeführt von Gilliam (John Hurt), versuchen die Menschen dort jeden Tag aufs Neue zu entkommen. Curtis (Chris Evans), Gilliams Vertrautem, ist die Situation schon lange ein Dorn im Auge: Zusammen mit anderen Unterdrückten versucht er, den hinteren Waggons zu entkommen und einen Weg an die Spitze des Zuges zu schaffen. Denn wer am Kopf des Zuges steht, bestimmt über das Leben an Bord...
Mit The Host zeigte Regisseur Bong Joon-ho bereits, dass ein Monsterfilm nicht eindimensional sein muss. Mit Snowpiercer setzt er sich dagegen ein Denkmal. Er beweist, dass er mit einer international aufgestellten Besetzung ein kleines filmisches Meisterwerk auf die Beine stellen kann, welches so manchem Hollywoodboss zu denken geben sollte. Vielen dürfte die Debatte zwischen Regisseur und Harvey Weinstein nicht entgangen sein, der den Film um 20 Minuten kürzen wollte, da er "zu anspruchsvoll für das amerikanische Publikum sei". Und anspruchsvoll ist Snowpiercer auf jeden Fall, doch dazu muss man sich zuerst einmal auf den Film einlassen und die Idee akzeptieren.
Trailer zu Snowpiercer
Ein Zug als letzte Rettung der Menschheit, der die vereiste Erde umrundet und nicht zu stoppen ist. Ein sehr gewagtes und auch unrealistisches Szenario. Doch darum geht es in Snowpiercer gar nicht, der Zug steht wie alles andere nur metaphorisch für ein System, eine Botschaft. Der Film selbst ist keine direkte Kritik an unserem heutigen System, vielmehr eine Kritik an vielen Systemen, ein Konglomerat unterschiedlicher Ströme und Ideen. Es geht um Führung, Unterdrückung, das menschliche Zusammenleben und vor allem um Freiheit. Kann es Freiheit geben? Wie wichtig ist die ständige Balance?
Während der Anfang von Snowpiercer und auch einige Trailer den Eindruck erwecken, es handele sich um einen recht actionreichen Film - und niemand sollte sich hier etwas vormachen, es gibt viele Actionszenen und vor allem im Mittelteil eine sehr intensive und blutige Kampfszene -, ist der Film weit mehr. Schnell schwingt die Stimmung um, wenn Curtis immer weiter an die Spitze des Zuges vordringt und die Dunkelheit des hinteren Zugteils hinter sich lässt. Gerade surreal mutet es an, wenn plötzlich eine Schulklasse indoktriniert wird, wenn in anderen Bereichen Partys stattfinden und Dekadenz herrscht, während am Ende des Zuges Menschen ums Überleben kämpfen. Es fühlt sich unwirklich an, es wird keine direkte Kritik geübt, nur gezeigt, und doch verfehlt der Film nicht seine Wirkung.
Dies ist vor allem den Schauspielern in Snowpiercer zu verdanken. Chris Evans spielt einmal mehr eine Charakterrolle, so wie er 2007 schon in Sunshine überzeugen konnte. John Hurt ist ebenfalls wie jedes Mal sehenswert. Eine kaum wiederzuerkennende Tilda Swinton als ekelerregende Aufseherin Mason, die letztlich aber ebenso nur ein Opfer des gesamten Systems ist. Doch es ist asiatischen Darstellern wie Kang-ho Song zu verdanken, die Vielschichtigkeit vermitteln. Und über allem steht Ed Harris als Wilford, der führt und lenkt und doch weit mehr ist als ein Tyrann. Dies ist es, was Snowpiercer ausmacht. Und die Erkenntnis, die am Ende des Films nicht nur über Curtis, sondern auch über den Zuschauer hereinbricht.
Snowpiercer ist nur ein Film, ein spannendes Abenteuer, als das es betrachtet werden kann, Snowpiercer ist aber auch mehr. Es öffnet ab einem bestimmten Punkt die Augen. Wie sehr werden wir durch unser Umfeld geprägt? Welche Freiheit genießen wir wirklich und kann es Freiheit, wie sie wir uns wünschen, überhaupt geben? Welcher Preis muss für das Überleben und für das Funktionieren eines Gesellschaftssystems gezahlt werden und ist man bereit, gegebenenfalls auch die Konsequenzen zu tragen? Wir alle sind ebenso Teil eines Systems, Zahnräder im Getriebe, ein Teil der Balance. Doch wer hat uns diesen Platz zugeteilt?
Trotz seiner Surrealität ist Snowpiercer ein Meisterwerk geworden. Ein Film, auf den man sich einlassen muss, der am Ende dafür aber umso mehr belohnt. Dieser Film verdient es, im Kino gesehen zu werden und lässt so einige Bombastfilme mächtig alt aussehen. Es ist die Macht der Bilder, die Macht der Worte, die in Snowpiercer dominieren. Eine Perle, wie sie es so nur sehr selten gibt.