Bewertung: 4.5 / 5
Zum Glück habe ich gestern um 20.15 Uhr noch rechtzeitig in die Fernsehzeitung geschaut, da bin ich doch glatt auf ZDF neo über "21 Gramm" von Alejandro Gonzalez Inarritu gestolpert! Die ersten 1-2 Minuten habe ich zwar leider verpasst, dafür aber einen überragenden Film geliefert bekommen, den ich ansonsten wohl erst sehr viel später gesehen hätte. Überrascht war ich über den fehlenden TV-Tipp von eli4s^^
"21 Gramm" gehört zu der Sorte Film, die heutzutage entweder nur noch selten vorzufinden sind und/oder in der Masse einfach untergehen. Drei verschiedene Handlungsstränge über drei verschiedene Menschen und deren Familien, welche miteinander verwoben werden. Cristina Peck (Naomi Watts), die ihre Drogensucht überwunden hat und ein glückliches Leben mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern führt. Paul Rivers (Sean Penn), der an einer Herzkrankheit leidet, auf eine Transplantation wartet und mit seiner Frau (Charlotte Gainsbourg) über das Zeugen eines Kindes streitet. Jack Jordan (Benicio del Toro), ein früherer Sträfling, der seinen Weg zu Jesus Christus gefunden hat und seine Frau (Melissa Leo) und Kinder damit belastet. Anstatt diese Handlungsstränge linear auszuarbeiten und zu verknüpfen, setzt Inarritu auf eine zeitlich nicht chronologische und verschachtelte Erzählweise. Der Geschichte verleiht diese Verschachtelung zwar keine höhere Komplexität, wohl aber kann sie die Intensität des Dramas punktuell verstärken und den Zuschauer zum selbstständigen Mitdenken auffordern. Man kann sich nicht einfach nur berieseln lassen, sondern muss sich mit den Charakteren beschäftigen. Nach einer gewissen Laufzeit entwickelt sich ein automatischer Fluss, ein Sog zu den Charakteren hin, und in diesen Fluss bettet Inarritu schließlich seine Verknüpfungen und Handlungswendungen ein, die mich mehrmals vollkommen unvorbereitet und hart trafen. Aha-Momente, die ein größeres Ganzes offenbaren.
Mit "21 Gramm" widmet sich Inarritu sehr ausführlich dem Leid der Menschen. Wie viele Schicksalsschläge kann ein Mensch erleiden, bis er daran und am Leben selbst zugrunde geht? Inwiefern können Schicksalsschläge das Wesen eines Menschen verändern, sowohl im positiven als auch im negativen Sinn? Wie kann man als Mensch glücklich sein in einer Welt voller Tod und Krankheit? Gibt es trotz alldem Hoffnung auf Besserung? Welches Gewicht hat das Leben, sind es diese 21 Gramm, das "Gewicht der Seele"?
"21 Gramm" ist ebenso eine Belastungsprobe für den Zuschauer, manche Szenen bewegen sich nahe an der Grenze zur Unerträglichkeit. Selten findet man solche Filme, in denen sich die Schauspieler dermaßen intensiv in ihre Rollen hineinversetzen wie hier. Und das betrifft nicht nur das Hauptdarstellertrio bestehend aus Watts, Penn und del Toro sondern auch die komplette Nebendarstellerriege. Naomi Harris und Benicio del Toro wurden für ihre Leistungen für den Oscar nominiert, selbiges hätte ebenfalls auf Sean Penn zugetroffen, wenn er im gleichen Jahr nicht schon für Mystic River nominiert gewesen bzw. wenn eine Doppelnominierung in der Darstellerkategorie erlaubt wäre.
Die 9/10 Punkten stehen hier wegen ein paar, aber wenigen Längen im Mittelteil, allerdings hat die Bewertung definitiv Luft nach oben. Es könnten genauso gut 10/10 Punkten sein! Ohne jetzt auch nur irgendeinen näheren Vergleich ziehen zu wollen, vermittelte mir Inarritu hier in gewisser Hinsicht ein Filmgefühl, wie ich es zuletzt bei Nolans und Tarantinos Frühwerken bzw. Erik Van Looys "Loft" verspürt habe. Jeder dieser Filme beeindruckte mich auf unterschiedliche, aber doch ähnliche Weise. Damit meine ich nicht die Form an sich, sondern die Art, wie Form und Inhalt zu einer Einheit verschmolzen werden.