Bewertung: 4 / 5
Mel Gibsons Regiedebut und meiner Meinung nach sein bisher bester Film. Und mit "bester" meine ich "insgesamt am rundesten". Basierend auf Braveheart, Die Passion Christi und Apocalypto könnte man wohl behaupten, dass Gibson ein hervorragender Actionregisseur aber kein sonderlich guter Geschichtenerzähler ist. Nun, Der Mann ohne Gesicht beweist ganz klar das Gegenteil!
Ruhig und behutsam erzählt Gibson seine Geschichte über die Generationen übergreifende Freundschaft zwischen dem 12-jährigen Chuck (Nick Frost) und dem ca. 33-jährigen Justin McLeod (Mel Gibson selbst). Die Geschichte wird getrieben von der Nähe zu den Charakteren, Gibson arbeitet ihre Komplexität Stück für Stück heraus und macht sie für den Zuschauer emotional greifbar. Neben seiner Regie gelingt Gibson auch vor der Kamera eine großartige, einfühlsame Performance und mit dem Jungdarsteller Nick Frost steht ihm ein kongenialer Schauspielpartner zur Seite. Untermalt werden die Bilder durch einen wunderschönen, manchmal jedoch etwas zu kitschigen Soundtrack aus den Federn James Horners.
Chuck leidet unter familiären Problemen, sein Vater kam bei einer Militäroperation der Air Force ums Leben, seine Mutter hat mittlerweile den vierten Mann am Start, generell gilt er in einer intellektuellen und studierten Familie als schwarzes Schaf. Während sich der Rest seiner Familie mit weltpolitischen Themen beschäftigt, vergräbt er sich lieber in seinen Superhelden-Comics. Sein Traum ist eine Aufnahme an der Militärakademie, leider fallen seine Schulnoten dafür zu schlecht aus. Mr. McLeod ist ein verschlossener Neuhinzugezogener, welcher zurückgezogen in einem Haus am See lebt. Seine rechte Gesichthälfte ist von Brandnarben entstellt, im Dorf kursieren zahlreiche Gerüchte über seine Narben und seine Vergangenheit, man könnte ihn wohl als "Shrek" des Dorfes bezeichnen. Durch einen Zufall erfährt Chuck, dass Mr. McLeod in seinem früheren Leben ein Lehrer war und bittet ihn um Nachhilfeunterricht. Aus dieser Zweckgemeinschaft entwickelt sich schließlich eine enge Freundschaft.
Sicherlich ist dieses Handlungskonzept nicht neu und an manchen Stellen vorhersehbar, gegen Ende betritt Gibson dennoch ein paar neue Wege und sorgt für überraschende Wendungen. Insgesamt steht bezüglich des Altbekannten aber das "Wie" und nicht das "Was" im Vordergrund. Vor allem profitiert die Geschichte von dem Mysterium, welches Mr. McLeod umgibt. Seine Vergangenheit wird zwar Stück für Stück beleuchtet und aufgedeckt, zum Schluss gewährt ihm Gibson jedoch einen Rest an Dunkelheit. Aus dieser Ungewissheit heraus entfaltet der Film eine enorme Kraft, welche über die wahre Freundschaft zwischen Chuck und Mr. McLeod weit hinausgeht. Eine Kraft, die Vorurteile jeder Art überwinden kann. Mit "Der Mann ohne Gesicht" appelliert Mel Gibson an das Positive im Menschen und hält ein berührendes Plädoyer dafür, dass Straftäter immer eine zweite Chance, eine Möglichkeit der Rehabilitierung verdient haben. Bravo!
P.S.: Für eine detaillreichere, aber ebenso treffende Betrachtung des Films empfehle ich die Kritik von Roger Ebert.