Bewertung: 4.5 / 5
Die einen halten ihn für altersmilde, die anderen loben seine proklamierte Zuversicht in die Menschlichkeit - Aki Kaurismäki selbst hält Le Havre für ein Märchen und eine Flucht aus der Wirklichkeit. Und die einzige Möglichkeit für sich selbst, einen Film über ein aktuelles Problem zu drehen: die ungelöste Flüchtlingsfrage. Dabei zeigt er stilistisch, wie gut das Kaurismäki-Universum auch in der Normandie funktioniert.
Zwei Schuhputzer stehen stumm nebeneinander an einer Mauer am Bahnhof. Die Menschen eilen vorbei, nur ein gut gekleideter, aber hektisch schauender Mann lässt sich die Schuhe putzen. Er begleicht seine Rechnung und wird kurz darauf von einem Gangster um die Ecke gebracht. Marcel Marx (André Wilms), einer der Schuhputzer, kommentiert den Vorfall: "Wenigstens hat er vorher bezahlt." Schon die Anfangszene zeigt, dass Kaurismäki auch in seinem 17. Spielfilm seinen schwarzen skurrilen Humor nicht verloren hat. Und doch ist nicht alles wie immer.
Marcel Marx hat als Filmfigur eine Vergangenheit - er war Poet und Bohémien in Kaurismäkis "Das Leben der Bohème". Nun ist er zu alt für nächtelange Diskussionen bei einem Glas Wasser, hat die Feder niedergelegt und ging ins selbst gewählte Exil in die Provinz. Hier lebt er ein einfaches zufriedenes Leben mit einer "Ausländerin" names Arletty (Kati Outinen aus Kaurismäkis Stammtruppe). Und wenn das Geld noch für ein Glas Wein in der Eckkneipe reicht - wunderbar. Auch wenn ihm die Worte auf dem Papier egal sind, lebt sein Esprit noch verbal. Was zu schönen und ungewöhnlich vielen Dialogen führt. Auf die Bemerkung, dass er Arletty nicht verdiene, antwortet er: "Niemand verdient sie. Warum also nicht ich?"
Als Arletty wegen einer schweren Krankheit ins Krankenhaus muss, hält er sich tapfer und erfährt große Unterstützung von seinen Nachbarn in einem pittoresken Arbeiterviertel am Rande von Le Havre. Und dann kreuzt noch der schwarze Flüchtlingsjunge Idrissa (Blondin Miguel) seinen Weg. Marcel Marx, der jeden Tag als Schuhputzer die soziale Kälte in der Stadt spürt, zögert nicht lange und versteckt den Jungen bei sich. Während die Autoritäten eine absurde Maschinerie in Gang setzen, um Idrissa wieder zu finden, beginnt Marcel die Flucht des Jungen zu planen. Mit unerschütterlichem Optimismus versucht er, Idrissa zu helfen. Dabei ist er auf die Solidarität der Mitbewohner seines Quartiers angewiesen und entdeckt Menschlichkeit bei Personen, wo er sie nicht vermutet hätte.
Gespickt mit vielen Anleihen aus französischen Filmen - besonders witzig ist Kaurismäkis Inspector-Clouseau-Variante, gespielt von Jean-Pierre Darroussin - erweist sich Le Havre als ein Film mit Herz, Hirn und Humor. Beim altmodisch wirkenden Dekor und der flächigen Farbgestaltung bleibt Kaurismäki seinem Stil treu. Die lokalen Hafenkneipen stellen Fundorte für die skurrilsten Typen dar, die der Finne auf seine gewohnte Art mit Witz, aber ohne Bloßstellung in Szene setzt. Und wer hätte "Little Bob" erfinden können? Einen winzigen Altrocker mit großem Selbstbewusstsein, den eben nur solche Städte mit Charakter wie Le Havre hervorbringen.
Le Havre bekommt 4,5 von 5 Hüten.
(Quelle: teleschau - der mediendienst | Diemuth Schmidt)
