Bewertung: 3 / 5
Wie es Magne/Thor in der zweiten Staffel schon so treffend anklagt, das einfache Weltbild der nordischen Mythologie mit eindeutigem Gut-Böse-Schema lässt sich nicht in die Gegenwart übertragen, ohne dort auf Basis heutiger Wertvorstellungen auf Bedenken zu stoßen und Kritik zu erfahren. Wie ich schon im Text zur ersten Staffel schrieb, wird in der Serie die Ragnarök in die heutige Zeit verlegt und inspiriert von der "Fridays For Future"-Bewegung vor dem Hintergrund des Klimawandels und der Umweltverschmutzung adaptiert. Der dafür verantwortliche Kapitalismus wird dabei reduziert auf die Firma einer nichtmenschlichen Familie, welche die menschliche Gesellschaft unterwandert hat und im stillen Kämmerlein die Fäden zieht. Die Nähe zu gängigen Verschwörungstheorien ist ersichtlich.
Ich befinde mich deswegen nun in einem moralischen Dilemma. Zum einen, weil ich nicht weiß, ob ich das Szenario wegen der verkürzten Darstellung kritisieren oder ob ich es - in Kombination von Staffel 1 & 2 - als gut ausgearbeitetes, exemplarisches Sinnbild loben soll. Zum anderen, weil "Ragnarok" abseits dieses Szenarios als Young-Adult-Fantasyserie viel richtig macht und mir großen Spaß bereitet, sodass ich den Hang verspüre, die möglichen Kritikpunkte einfach zu ignorieren. Mir fällt es schwer, die Serie und die einzelnen Staffeln zu bewerten.
Trailer zu Ragnarök
Vorteil der zweiten Staffel im Vergleich mit der ersten Staffel ist ganz klar, dass sie den Fokus mehr auf die Komplexierung des Charakterdramas und auf die spannende Neuerfindung der nordischen Mythologie legt. Nach Thor erwachen nun auch Loki, Freyja, Odin und Tyr in Form ihrer Reinkarnationen zum Leben und greifen aktiv in die Handlung ein, die Beschaffung des Hammers Mjölnir zieht sich als Subplot durch die Staffel. Das Fantasydrama wird schön porträtiert, zudem sind die Schauspieler nun mehr gefordert und zeigen, dass sie dem Drama gewachsen sind.
Laurits/Loki ist mein Lieblingscharakter der Staffel. Gemäß der Mythologie wird er seit Staffel 1 als genderfluid gezeichnet, nach seinem Erwachen als Loki in Staffel 2 erfolgt dann ein verstärkter Imagewechsel, der sich in Form von Frisur, Mode, Schmuck und Maniküre ausdrückt. Des weiteren entwickelt er Gefühle für den jungen Leiter eines Fast-Food-Restaurants und gebiert interessanterweise selbst die Midgardschlange. Loki befindet sich in einer Identitäts-/Sinnkrise, auf der einen Seite stehen Leben und Beistand mit seiner Mutter und seinem Halbbruder Thor, auf der anderen Seite jene mit seinem Riesenvater Vidar. Thor und Loki entfremden sich voneinander, je zwingender und radikaler Thors Kampf gegen die Riesen voranschreitet, "Ragnarok" entwirft hier eine kraftvolle und mitreißende Bruderbeziehung mit ständig wechselnden Höhen und Tiefen.
Nachdem Magnes Charakterzeichnung in Staffel 1 noch der Ermächtigungsfantasie eines Jugendlichen mit Superkräften gleichkam, wird er in Staffel 2 nun wegen seiner Taten von Schuldgefühlen geplagt und verzweifelt wegen seiner ihm von höheren Mächten auferlegten Rolle als Gott im Allgemeinen sowie als Reinkarnation Thors im Speziellen. Eine notwendige Charakterentwicklung, durch die Magne wieder etwas geerdet wird und man sich mit seinem Handeln leichter identifizieren kann.
Riesensohn Fjor befindet sich ebenfalls in einer Identitäts-/Sinnkrise und ist hin und hergerissen zwischen der von der Riesenfamilie abgelehnten Liebe zur Menschenfrau Gry und seiner Pflicht, der Riesenfamilie im Kampf gegen die Götter und Menschen beizustehen. Riesentochter Saxa wird derweil aufgrund des Zerwürfnisses zwischen Vidar und Fjor in die Geschäftsführung der Jutul-Firma eingeführt, wodurch die Jahrhunderte alte Tradition gebrochen würde, dass die Firmenleitung vom Vater auf den Sohn übergeht. Als junge Frau möchte sie andere Wege gehen als ihr Vater und dessen Geschäftspartner, um den guten Ruf der Firma wiederherzustellen, beispielsweise strebt sie ein öffentlichkeitswirksameres Auftreten und eine dem 21. Jahrhundert angemessene Strukturreform an. Dabei sieht sie sich allerdings mit den alten, patriarchalen Strukturen konfrontiert, die nur äußerst schwierig aufzubrechen sind.
Sympathischerweise enthält Staffel 2 auch schon zunächst zarte und dann heftig-lustvolle Annäherungen zwischen Thor und Saxa, die laut Mythologie zwei Söhne miteinander haben werden.
6,5 von 10 Punkten