Bewertung: 4.5 / 5
Natürlich zählt zunächst das, was hinten rauskommt. Doch die besondere Geschichte, die sich hinter dem deutschen Sci-Fi-Thriller Reality-XL verbirgt, muss erzählt werden. Denn dies hier ist kein Film wie jeder andere.
Ganz bewusst verzichtete Regisseur, Autor und Produzent Tom Bohn auf jegliche finanzielle Förderung und schuf einen klassischen Independent-Film. Er ging selbst ins Risiko, kündigte zwei Lebensversicherungen, arbeitete mit Rückstellungen. Schauspieler und Crew profitieren erst dann, wenn der Film in die Gewinnzone kommt. Doch, so versichert Bohn: Sie sagten auch zu, weil Reality-XL eben das etwas andere Projekt ist. Es geht um ein Thema, das so populär wie komplex ist. Nahezu der gesamte Film dreht sich um das Kernforschungsinstitut CERN in der Schweiz.
Doppelspaltexperiment. Linearbeschleuniger. Schwarzes Löcher. Alles drin. - Schwierig? Spröde? Nur auf den ersten Blick! Denn Bohn, erfahren unter anderem als Regisseur zahlreicher Tatort-Krimis, kennt sehr wohl die Anforderungen eines Massenpublikums und lässt bei aller Unangepasstheit die massenwirksamen Momente nicht außer Acht.
Die ebenso simple wie reizvolle Idee: Nach der Nachtschicht im Kontrollraum des Teilchenbeschleunigers sind 23 Menschen dieser Schicht plötzlich verschwunden. Nur einer verlässt noch den Raum: Professor Konstantin Carus (Heiner Lauterbach). Staatsanwalt Robin Spector (Max Tidof) und die Kriminalbeamtin Sophia Dekkers (Annika Blendl) beginnen an einem nicht näher bezeichneten Ort das Verhör. Kernfragen: Was ist geschehen in dieser Nacht? Wo sind die Kollegen von Carus? Der lässt sich nicht allzu lange bitten. Er hat eine Erklärung für all das parat. Eine Erklärung, die nicht nur die ermittelnden Beamten, sondern auch den Zuschauer an die Grenzen seiner Fantasie führt. Immer mit im Raum: der Chronist Antoine (Godehard Giese), der das gesamte Verhör protokolliert.
Was zunächst wie ein schräger Ausflug in die Welt der Physik aussieht, wird bald schon zu einem Exkurs über Leben und Tod, über Sinn und Unsinn unseres Daseins. Tom Bohns Buch geht mutig die ganz großen Fragen an, verwirrt bewusst seine Zuschauer, um sie am Ende auf geradezu poetische Weise mit ihren verqueren Gedanken zurückzulassen. Reality-XL begibt sich dabei auch auf gefährlich anmutendes, religiöses Terrain: Wer steuert uns, wer hat uns im Blick? Antworten auf offene Fragen, die zweifellos bleiben, könnten zwei Fortsetzungen bieten, die Bohn im Falle eines Erfolges geplant hat.
Nur rund 90.000 Euro kostete der Independent-Film, der im Selbstverleih erscheint und in 21 Kopien startet. Rund 20.000 Zuschauer wären zunächst nötig, um Reality-XL in die Spur zu bringen. Mit der DVD- und anschließenden TV-Verwertung wäre das forsche Projekt refinanzierbar. Verdient hätte es dieser geistreiche, aber nicht überkandidelt feuilletonistische Film allemal.
Zumal den vier Hauptdarstellern ihre Freude an dieser ungewöhnlichen Aufgabe anzumerken ist. Heiner Lauterbach darf in einer für ihn ungewohnten Rolle brillieren. Als Professor im Rollstuhl muss sich dieser sonst meist so körperliche Schauspieler fast ausschließlich auf Mimik und Worte verlassen. Ihm gegenüber stehen der akkurat rasierte, eitle Staatsanwalt und die schöne Kriminalbeamtin, die für die notwendige Portion Sex-Appeal sorgt. Die wahrscheinlich schönste Rolle indes hat Godehard Giese, der dem skurrilen Protokollar eine faszinierende Spannung verleiht. Und er ist es auch, der am Ende den Schlüssel für alles in den Händen hält ...
Reality-XL bekommt 4,5 von 5 Hüten.
(Quelle: teleschau - der mediendienst | Kai-Oliver Derks)
