
Bewertung: 4.5 / 5
Nur noch selten finden Kinokonsumenten Filme vor, die aufgrund ihrer brachialen Länge eine sogenannte Intermission, eine hineingeschnittene Pause, beinhalten, um den Zuschauern den Gang zur Toilette oder das Verinnerlichen der bereits stattgefundenen Handlung zu ermöglichen. Jüngstes Beispiel für dieses Phänomen ist das Immigranten-Drama Der Brutalist von Regisseur Brady Corbet, welches unter anderem mit dem Golden Globe als bester Film und erst kürzlich mit drei Academy Awards prämiert wurde. Doch zahlen sich die 3 Stunden und 35 Minuten im Kinosaal wirklich aus? Oder ist vielleicht gerade die Länge ausschlaggebend für die erzählerische Qualität des Mammut-Werks?
Der Brutalist Kritik
Der jüdische Architekt Lászlo Tóth (Adrien Brody) wandert nach dem Ende des 2. Weltkriegs als Überlebender des KZ Buchenwalds von Europa in die USA, genauer gesagt nach Pennsylvania, aus und findet bei seinem Vettern Attila (Alessandro Nivola) vorerst eine Anstellung in dessen Möbelgeschäft. Eines Tages bekommt er den Auftrag, die Bibliothek des reichen Bauherren Harrison Lee Van Buren (Guy Pearce) zu renovieren. Als dieses Vorhaben aber wegen eines Missverständnisses scheitert, landet Tóth auf der Straße und verfällt der Morphium-Sucht. Das Schicksal führt ihn und van Buren jedoch erneut zusammen, da Lászlo eine Gedenkstätte für dessen verstorbene Mutter errichten soll. Van Buren veranlasst, dass Erzsébet Tóth (Felicity Jones) ebenfalls nach Amerika einreisen kann, sodass dem gemeinsamen Bauvorhaben scheinbar nichts mehr im Wege steht. Allerdings markiert das Projekt den Beginn nervenaufreibender Jahre für den Architekten und seine Frau, die ihn am amerikanischen Traum zweifeln lassen und in denen er die Folgen des Machtgefälles selbst zu spüren bekommt...
Trailer zu Der Brutalist
Der Brutalist ist inhaltlich in zwei große Teile gegliedert, zu denen am Anfang eine kurze Ouvertüre als Einführung steht und am Ende ein Epilog zur Abrundung der Geschichte. Während Teil 1 so die Jahre 1947 bis 1953 abdeckt, finden wir nach der bereits erwähnten Intermission Teil 2 vor, der daran anschließend die Ereignisse von 1953 bis 1960 erzählt. Durch diese strikte Einteilung können wir uns als Zuschauer zurücklehnen und uns allein auf die Handlung fokussieren, ohne dabei den Faden des äußerst vielschichtigen Werks zu verlieren. Denn neben der Thematik der Immigration und der Nachkriegszeit greift man im Laufe des Films noch viele weitere Punkte auf, was aber später nochmal Gegenstand der Kritik sein soll.
Optisch beeindruckt das Drama etwa mit seinem künstlerischen Look und seinen großangelegten Totalen, die etwa die Arbeiten an dem von Van Buren geplanten Denkmal dokumentieren. Auch besinnliche Close-Ups zwischen Lászlo und seiner Ehefrau Erzsébet suggerieren die Nähe des Ehepaares, nachdem beide während der Nachkriegszeit lange getrennt voneinander waren. Für den Dreh griff man dafür auf ein fast vergessenes 35mm-Filmformat namens Vista Vision aus den 60er-Jahren (wurde z.B. bei Hitchcocks Der unsichtbare Dritte verwendet) zurück, bei dem der Film nicht wie üblicherweise vertikal, sondern horizontal durch die Kamera läuft. Aufgrund der extremen Breite entsteht somit ein Effekt des Unmittelbaren, was es uns als Zuschauer einmal mehr so vorkommen lässt, als wären wir direkt am Geschehen beteiligt. Kamerafahrten aus der Sicht des Autos oder des Zugs sind ebenso eher unkonventionelle Perspektiven, die im Film des Öfteren Verwendung finden und ihn künstlerisch bereichern.
Bezüglich des "KI-Skandals", der in den letzten Wochen aufkochte, scheiden sich wohl die Geister. Unserer Meinung nach sollte man sich immer fragen, ob durch den Gebrauch der Technologie tatsächlich Arbeitsplätze eingespart oder nur minimale Anpassungen (z. B. Nachvertonung) vorgenommen werden, die im Endprodukt kaum auffallen. So setze man bei Der Brutalist nämlich künstliche Intelligenz ein, um etwa das gesprochene Ungarisch von Brody und Jones in bestimmten Szenen zu verbessern, dazu soll KI bei gezeigten Gebäuden gegen Ende des Films zum Einsatz gekommen sein. Corbet versicherte in einem Statement noch einmal, dass die Performance der Darsteller durch eine Software nur perfektioniert wurde, weil Ungarisch unfassbar schwer zu lernen sei. Die Bilder seien dazu alle von Hand gemalt, einzig das Memorial-Video wurde absichtlich entsprechend den 80er-Jahren erstellt, da man nur ein geringes Budget zur Verfügung hatte. Somit hält sich der KI-Gebrauch in diesem Falle, unserer Ansicht nach, in Grenzen und bedroht nicht die Arbeitsplätze der Beteiligten.
Inhaltlich lassen sich für beide Hälften von Der Brutalist unterschiedliche Themenkomplexe zuordnen, die sich mit der fortlaufenden Handlung verschieben beziehungsweise ineinander übergehen. So steht zu Beginn klar die Migration der vom Krieg geplagten Europäer und deren Versuch, beruflich und sozial Fuß zu fassen, im Vordergrund, wohingegen Teil 2 die Ausnutzung von Machtpositionen und die Verwirklichung künstlerischer Visionen favorisiert. Themen wie Traumata-Bewältigung der Gefangenenzeit oder Drogenkonsum ziehen sich hingegen durch den gesamten Film, da ja vor allem die brutalistische Architektur für Lászlo eine Art Ventil ist, um mit den schrecklichen Erlebnissen umzugehen. Hier hätte man, um den Zuschauern die psychische Last zu veranschaulichen, kleine Flashback-Schnipsel dieser Ereignisse einblenden können, die verdeutlichen, wie wichtig dem Architekten etwa die genaue Umsetzung seiner Vorstellungen ist. Nichtsdestoweniger spielt der Film dafür gekonnt die Naivität der Elite rund um Van Buren aus, die als Amerikaner gar nicht glauben können, was Lászlo während eines edlen Diners über die Erlebnisse seiner Gefangenschaft in Europa berichtet.
Kommen wir nun aber mal zu den schauspielerischen Leistungen der Darsteller, die durch die Bank weg alle sehr authentisch und passioniert wirken. Hervorzuheben ist dabei natürlich die Performance von Adrien Brody, der nicht nur eine sagenhafte Screentime von über 2 Stunden und 8 Minuten ausfüllt, sondern dazu nach Der Pianist zum bereits zweiten Mal zurecht als bester Hauptdarsteller bei den Oscars geehrt wurde. Gerade zu Beginn, als Lászlo seinem Cousin weinend am Bahnsteig in die Arme fällt, wurde uns klar, dass da am Sonntag der Richtige mit dem Goldjungen für Der Brutalist belohnt wurde. Denn egal ob verletzlich, enthusiastisch oder frustriert – Brody liefert ab, während seine Co-Stars, wie etwa Guy Pierce oder Felicity Jones, ebenso bravouröse Leistungen an den Tag legen, obwohl beide längst nicht so oft auftreten wie Lászlo. Intime Szenen mit viel nackter Haut kommen öfter als nur einmal vor, wodurch der Film ab 16 Jahren freigegeben ist. Diese sind jedoch sinnlich inszeniert, wohingegen eine bestimmte Sequenz die ganze Härte der Realität aufzeigt, wie man sie als Zuschauer vielleicht nicht unbedingt erwartet hätte.
Dass der Film mit einem Budget von nur 10 Millionen US-Dollar ausgekommen ist, konnten wir dagegen kaum glauben, da sowohl Drehorte, wie etwa ein italienischer Marmor-Steinbruch, als auch das Produktionsdesign ein weitaus höheres vermuten lässt. Der ebenfalls mit einem Oscar ausgezeichnete Score von Komponist Jason Blumberg kommt mit einem einprägsamen Orchester-Motiv daher, das sich durch das komplette Werk zieht und mit teils eigenartigen Violinen-Soli die Stimmung passend vertont.
Die im Titel aufgeworfene Frage, ob die gewaltige Länge von 3 Stunden und 35 Minuten Der Brutalist Abbruch tut, können wir entschieden verneinen, was zum einen an der extrem langsamen Erzählgeschwindigkeit liegt. So kommt selten bis gar nicht das Gefühl von Langatmigkeit auf, da ein tragisches Schicksal eines Immigranten gezeigt wird, dessen Thematik mit Hinblick auf die USA aktueller denn je ist. Zum anderen gibt die Pause den Zuschauern Luft, um das Gesehene einzuordnen und um sich auf die zweite Etappe gedanklich einzustellen.
Fazit
Mit Der Brutalist bringt Regisseur Brady Corbet nach seinem Regiedebüt The Childhood of a Leader (2015) und dessen Nachfolger Vox Lux (2018) ein Arthouse-Epos auf die Leinwand, das dem von der Fachpresse plakatierten Attribut, monumental zu sein, mit tollem Look und markantem Score gerecht wird. Freunde des Kunstkinos bekommen hier neben herausragenden Darstellerleistungen einen stark inszenierten Indie-Film präsentiert, der einen detaillierten, komplexen, aber auch bewegenden Werdegang bebildert. So gibt es bestimmt viele Zuschauer, die nach dem Kinogang direkt googeln mussten, ob es den thematisierten Architekten Lászlo Tóth wirklich gegeben hat.
Einzig die Fülle der behandelten Themen kann zunächst überfordern, weshalb man sicherlich noch einige Tage über Der Brutalist nachdenken wird, bevor alles in Gänze durchdrungen wurde. Darüber hinaus hätten beispielsweise kurze eingestreute Rückblenden die Motivation des ambitionierten Künstlers wohl noch visuell unterstrichen, dies ist allerdings Jammern auf sehr hohem Niveau.
