Bewertung: 4 / 5
Frankreich, Ende des 19. Jahrhunderts. Ein Vater bringt seine Tochter in ein Kloster, weil er sich nicht mehr zu helfen weiß. Marie ist taub und blind und die Eltern sind mit der Betreuung des wilden Kindes, das gefangen in seinem Körper scheint, überfordert. Auch die Nonnen geraten schnell an ihre Grenzen. Keiner scheint Zugang zu Marie zu finden. Bis auf Schwester Marguerite. Langsam und vorsichtig nähert sie sich dem Mädchen und fängt an, ihr mit Zeichen, die sie ihr in die Hand schreibt, Dinge zu erklären. Und Marie saugt wissbegierig alles auf, was Marguerite ihr zeigt. Denn für sie öffnet sich zum ersten Mal ein Fenster zur Welt, das bisher verschlossen war. Doch Marguerite weiß, dass ihr nicht ewig Zeit bleibt, um Marie für ein selbstbestimmtes Leben in der Welt vorzubereiten. Denn Marguerite ist krank. Und nur ihre Aufgabe hält sie stark.
Basierend auf einer wahren Begebenheit erzählt Regisseur Jean-Pierre Améris in Die Sprache des Herzens die bewegende Geschichte der Marie Heurtin, der es dank der aufopfernden Hilfe und dem unerschütterlichen Glauben einer Ordensschwester gelang, trotz ihrer Behinderung am Leben teilzunehmen. Schauspielerisch leisten beide Darstellerinnen Großes. Isabelle Carré als Marguerite ist sanft und zupackend zugleich, sie bewacht, begleitet und beschützt Marie. Und Ariana Rivoire als Marie ist eine wahre Entdeckung in ihrer Art und Weise, einen Menschen zu verkörpern, der in der Dunkelheit der eigenen Seele gefangen ist und doch so sehr ein inneres Leuchten erstrahlen lässt. Améris ist ein bewegender und tief berührender Film über zwei außergewöhnliche Menschen gelungen, die den Weg für viele Menschen mit Behinderung bereitet haben. Und der zeigt, dass Sprache keine Grenzen kennt, wenn sie von Herzen kommt.
Trailer zu Die Sprache des Herzens
Die Erziehung Maries zu einem akzeptierten Mitglied der Gemeinschaft stellt sich für Marguerite als Sisyphos-Aufgabe dar und wir erleben den Erfolg ihrer Bemühungen als Zuschauer dank der einfühlsamen Regie ähnlich intensiv wie die beiden Protagonistinnen. Die nicht endende Geduld und Hingabe, die Marguerite Marie gegenüber zeigt, führt endlich zum Erfolg. Nun ist der Bann gebrochen, aus dem wilden Mädchen - die Situation lässt Erinnerungen an Truffauts Wolfsjunge wach werden - wird eine lernbegierige Klosterschülerin, die ihren Eltern stolz ihr erworbenes Wissen präsentieren darf.
Diese historische Begebenheit, authentisch überliefert vom Ende des 19. Jahrhunderts, wird hingebungsvoll und mit starken, adäquaten Mitteln erzählt, welche dem Film seine eigene Prägung geben. Die Tonebene spielt dabei eine ebenso große Rolle wie die Bilder selbst. Neben sparsam eingesetzten Musikuntermalungen, die sich niemals aufdrängen, erleben wir das Ringen um die Menschwerdung Maries in absoluter Stille, nur von Originaltönen und gelegentlichem Flüstern von Marguerite begleitet. Dieser bewusst gewählte Effekt lässt die Dramatik der Situation nachempfinden, nimmt den Zuschauer mit in die stumme Welt eines tauben Mädchens. Die Bilder zeigen eine grüne, üppige Natur, die Maries Einschränkung zu unterstreichen versteht. Die Inszenierung beschränkt sich auf wenige Innenaufnahmen wie dem Speisesaal oder der Kammer von Marguerite und Marie. Die Gemeinschaft der Klosterschwestern wird ebenfalls auf schöne Weise anschaulich gemacht.
Marguerite, die in Marie "die Tochter meiner Seele" und "das Licht meines Lebens" gefunden hat, sieht ihre Erfüllung in der Hingabe für Maries Entwicklung. Auch die komischen Situationen, die dabei entstehen, bindet die Regie gekonnt in den Erzählfluss ein. Tempo und Rhythmus des Films werden bestimmt durch den Verlauf der Geschichte von Marie und Marguerite. Seine Botschaft, die genau so intensiv wie die filmischen Mittel vermittelt wird, lautet: Nicht zurückzuschrecken vor großen Herausforderungen, sich nicht zu fürchten vor Einsamkeit, Krankheit, dem Tod. Und die Besonderheit zu akzeptieren, die jeden Einzelnen von uns ausmacht. Sein Appell an die Gesellschaft, die Menschen in der Dunkelheit und in der Stille nicht zu vergessen, macht diesen Film einzigartig und sehenswert. Es bleibt zu wünschen, dass er im Kino von möglichst vielen Menschen entdeckt wird.
Prädikat: besonders wertvoll
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung