Bewertung: 4.5 / 5
Jane Eyre-Verfilmungen, befand ein britischer Journalist, gab es in den vergangenen Jahrzehnten so viele wie einst warme Mahlzeiten für die drei Brontë-Schwestern. Das mag ein wenig hoch gegriffen sein - zumindest hofft man das für die Brontës - doch man versteht, worauf der Verfasser hinaus will: Charlotte Brontës Jane Eyre wurde rund 20 mal verfilmt - und damit öfter als etwa Janes Austens Stolz und Vorurteil. Die Frage nach der Notwendigkeit von Cary Fukunagas Adaption der düsteren viktorianischen Romanze wäre also durchaus gerechtfertigt. Nur besteht keinerlei Grund, sie zu stellen.
Regisseur Cary Fukunaga (Sin Nombre) und Drehbuchautorin Moira Buffini (Immer Drama um Tamara) - beide noch am Anfang ihrer Karrieren - nähern sich dem britischen Klassiker mit Respekt, aber ohne jede Scheu: Statt sich sklavisch an die Chronologie des 1847 erschienenen Romans zu halten, steigen sie kurz vor dem eigentlichen Höhepunkt in die Handlung ein. In Rückblenden beleuchten sie, was die junge Jane Eyre (Mia Wasikowska) dazu brachte, so überstürzt aus dem herrschaftlichen Thornfield Hall zu fliehen, dass die wackelige Kamera kaum hinterherkommt.
Die Szenen, die von Janes schwerer Kindheit im Haus der lieblosen Tante und im Mädcheninternat Lowood berichten, dauern manchmal nur Sekunden - und sprechen dennoch Bände. Ohne unterschlagen zu müssen, wie ihre Hauptfigur zu einem ernsthaften, beherrschten Wesen wurde, sparen Fukunaga und Buffini durch diesen geschickten Kunstgriff wertvolle Erzählzeit. Und die nutzen sie sinnvoll.
Denn das Kernstück der Geschichte ist nun einmal Janes Zeit als Gouvernante in Thornfield Hall: Die Monate, in denen die junge Frau die kleine Adèle (Romy Settbon Moore) unterrichtet, sich mit Haushälterin Mrs. Fairfax (Judi Dench) anfreundet und Zeugin unheimlicher Vorgänge im Herrenhaus wird. Und in denen sie mit ihrer zurückhaltenden, aber von Grund auf ehrlichen Art den mürrischen Hausherren Mr. Rochester (Michael Fassbender) für sich einnimmt.
Die Annäherung dieser beiden Charaktere auf der Leinwand nachvollziehbar herauszuarbeiten, ist die größte Herausforderung, vor die Charlotte Brontës Werk Regisseure und Drehbuchautoren stellt. Dass Fukunaga und Buffini sie meistern, liegt vorrangig an zwei Dingen: Zum einen lässt das Duo seinen Hauptfiguren bewusst Zeit für längere Dialoge. Es sind die besten Momente des Films, in denen die spröde Angestellte mutig die rücksichtlosen Worte ihres Herren pariert. Zum anderen wurden mit Michael Fassbender und Mia Wasikowska zwei außergewöhnlich präsente Hauptdarsteller verpflichtet. Sie transportieren die Spannung zwischen Jane Eyre und Mr. Rochester besser, als es 1995 Charlotte Gainsbourg und William Hurt oder - mit Verlaub - 1944 Joan Fontaine und Orson Welles gelang.
Der Rest wäre theoretisch reine Formsache. Doch Fukunaga bemüht sich nicht nur erfolgreich darum, das Innenleben seiner Figuren nach außen zu kehren: Mit rauen Bildern, karger Beleuchtung, vereinzelten Schreckmomenten und dem Verzicht auf jeglichen Pomp gelingt es ihm, auch die düstere Stimmung des Romans präzise einzufangen. Und das muss ihm der Nächste, der sich an Jane Eyre versuchen wird, erst einmal nachmachen.
Jane Eyre bekommt 4,5 von 5 Hüten.
(Quelle: teleschau - der mediendienst | Annekatrin Liebisch)