
Eine kurze Reise durch die Zeit mit "MrBond"
Die kürzlich erschienene MJ-News Die Macht ist mit ihr: Festival zeigt verschollene Version von "Episode 4"! ließ den ein oder anderen Leser etwas ratlos zurück. Ich selbst musste bei „verschollene Version“ direkt an ein Magazin denken, das vor langer, langer Zeit in meinen Besitz übergegangen war. Ich war mir jedoch nicht mehr ganz so sicher und vermutete, dass es eines jener Cinema-Hefte war, die ich früher – vor Moviejones und anderen Film-Webseiten – in regelmäßigen Abständen beim Zeitungskiosk um die Ecke erwarb. Meine blasse Erinnerung sagte mir, dass verschiedene Journalisten die Gelegenheit bekommen hatten, in der Skywalker-Ranch von George Lucas eine völlig ungeschnittene Fassung von Star Wars: Episode IV - Eine neue Hoffnung zu Gesicht zu bekommen und in eben diesen Kino-Zeitschriften darüber zu berichten.
Ein historisches Magazin
Da mich das Thema nun nicht mehr losließ, nahm ich mir vor, meine Erinnerungen etwas aufzufrischen und startete eine Expedition auf unserem Dachboden, der sämtliche Hefte und Magazine aus vergangenen Tagen stapelweise beherbergt – vermutlich genau aus jenem Grunde, der mich jetzt dazu bewegte, dort meine Schwäche für Archäologie auszuleben. Da saß ich nun also, zwischen Bergen von Zeitschriften… Power Play, PC Player, Gamestar, c´t, PC Professional, Cinema, Space View und etliche mehr. Mein Verstand sagte mir, ich müsse nur das entsprechende Cinema-Heft finden. Die Geschichte würde sich dann schon als Titelstory auf dem entsprechenden Cover offenbaren.
Tatsächlich führten mich letztendlich Stunden der Suche nicht zu einem Cinema-Heft, sondern zu einem Heft, das den vertrauenerweckenden Namen Das offizielle Star Wars Magazin (unter Kennern auch kurz als OSWM bekannt) trägt. Auf der Titelseite der Ausgabe #13 eine Großaufnahme von Darth Maul und der Text: "Das Böse hat ein neues Gesicht. Darth Maul – Schwarzer Lord der Sith aus Episode I". Daneben ein etwas kleineres Bild, das eine kleine Person und die Beine eines Riesen darstellt. Darunter der Titel: "A New Hope: Verlorene Szenen". Ein Blick auf das Erscheinungsdatum des Heftes... es gibt kein Datum. Der Preis: 7,50 DM. Die Titelstory verrät jedoch, dass es sich offenbar um das Jahr 1999 handeln muss und siehe da, auf Seite 1 stehen die verräterischen Intro-Worte: "Endlich ist es soweit. Alles Warten hat ein Ende. Während diese Ausgabe an den Kiosken ausliegt, wird in Nordamerika Star Wars: Episode I - The Phantom Menace in den Kinos anlaufen. Hier in Deutschland werden wir uns noch bis zum offiziellen Start am 2. September gedulden müssen."
© OZ Verlag
Nun gut, ich blättere auf Seite 38 im Heft und da steht die große Überschrift: "Die Evolution von Star Wars – Erforschung der verlorenen Szenen. Der Mann, der Tatooine wiederentdeckte und als erster die verlorenen Anchorhead Szenen enthüllte, zeigt seine neuste Entdeckung – eine ganz andere Version von Star Wars." Das hört sich nach Enthüllungsjournalismus an. Von wem stammt der Text? Es ist eine Person namens Dr. David West Reynolds. Eine kurze Google-Suche des Namens führt mich auf einen Jedipedia-Artikel, in dem man mehr erfährt: Reynolds ist tatsächlich promovierter Archäologe und Star Wars Fan. Durch seine Reise nach Tunesien, um die Drehorte der Tatooine-Szenen zu erkunden und den anschließend verfassten Bericht im Magazin Star Wars Insider*, wurde George Lucas auf ihn aufmerksam. Dies führte dazu, dass Reynolds Mitarbeiter (Marketing) bei Lucasfilm wurde und diverse Sachbücher zum Thema Star Wars verfasste, wie z.B. Star Wars Complete Vehicles oder Star Wars - Die Risszeichnungen. Einmalige Einblicke in die Raumschiffe des Kriegs der Sterne.
*Star Wars Insider ist quasi die amerikanische Version vom hier genannten (deutschen) offiziellen Star Wars Magazin, siehe Jedipedia.
Die verlorenen Szenen: Der "Lost Cut"
Zurück zum Artikel im OSWM. Die genannten verlorenen Anchorhead-Szenen sind natürlich jene, die mittlerweile bei Youtube auffindbar sind, wenn man danach sucht: Luke Skywalker beobachtet den Angriff des imperialen Sternzerstörers auf Leias Blockadebrecher von der Planetenoberfläche aus und tauscht sich mit seinen Freunden (u.a. Biggs Darklighter) über den Vorfall aus. Dies war laut Reynolds aber nur der Anfang der eigentlichen Lost Cuts. Tatsächlich existierte eine Version von Star Wars, die entstand, noch bevor der Film überhaupt zu Ende gedreht war – geschnitten von John Jympson, der für den Schnitt des 1964 entstandenen Zulu, oder auch den Beatles-Film Yeah! Yeah! Yeah! (Original Titel: A Hard Day’s Night) verantwortlich zeichnete und so George Lucas` Interesse weckte. Der von Jympson geschnittene Star-Wars-Film war noch komplett ohne Hochglanz-Spezialeffekte und es mussten noch wenige Szenen auf dem Blockadebrecher gedreht werden. Die uns bekannte Version (der noch vor der 1997 erschienen Special Edition) wurde letztlich von Richard Chew, Paul Hirsch und Lucas` Frau Marcia geschnitten und wurde wohl auch deswegen zu dem Erfolg, den wir heute kennen und lieben.
Wenn man bedenkt, wie viel Material offenbar für diesen Film vorhanden war, ist es beinahe eine Meisterleistung der Cutter, die den Film zu dem machten, wie er ins Kino kam. Laut Reynolds hatte man mit der ersten Schnittfassung eine Version die schon beinahe diametrale Unterschiede zur bekannten Schnittfassung enthielt. Gut 30-40% der Szenen waren entweder anders geschnitten, wiesen andere Kameraeinstellungen auf, oder ganze Handlungsstränge waren vorhanden, die später der Schere zum Opfer fielen. Reynolds kam in den "Genuss" sämtlicher Aufnahmen (der gesamte Ur-Schnitt) und bezeichnete seine Erfahrung selbst als "archäologische Reise" ins Archiv von Star Wars. Der Film, der damals noch mit dem Titel "The Star Wars" startete, vermittelte ihm ein ganz neues Gefühl. So gab es nicht nur zusätzlich Szenen, sondern auch mehr Dialoge. Vieles davon verblieb im Roman zum Film, der sich eng am Drehbuch orientierte. Letztendlich wurden lediglich unnötige Szenen und Dialoge für den Film entfernt. Er wirkte zuvor eher wie eine Dokumentation, da alles sehr genau erklärt war.
Manche Szenen wurden deutlich verlängert, damit der Zuschauer stets im Bilde war, was und wo, wie passierte. Die Fahrt mit Lukes Landspeeder dauert länger inkl. der Außenaufnahmen des Speeders vor Obi-Wans Hütte, Leia wird nach der Zerstörung Alderaans wieder abgeführt – Commander Daine Jir, der Leia verhört gibt Vader die Anweisung, die Prinzessin zu exekutieren, worauf Vader ihm entgegnet, er müsse durch sie herausfinden, wo die versteckte "Festung" zu finden sei (was möglicherweise eine Referenz zu Akira Kurosawas Die Verborgene Festung war, die bekanntlich u.a. Inspiration für Lucas` Werk war). Außerdem gibt es zusätzliche Szenen des Millennium Falcon im Hangar des Todessterns, eine alte Frau in Anchorhead meckert Luke an, er sei zu schnell mit dem Speeder unterwegs, es gibt mehrere Szenen, in denen auch unbekannte Rebellen-Piloten und Techniker bei der Besprechung zum Todessternangriff zu sehen sind, Han hat seine Freundin "Jenny" in der Cantina – die Cantina-Szene selbst ist deutlich länger (der Dialog zwischen Han und Obi-Wan dauert länger und wird oft durch dialoglose Szenen unterbrochen) und Obi-Wan irrt länger auf dem Todesstern umher, um den Schalter für den Traktorstrahl zu finden. Dadurch wirkt die Raumstation zum einen viel größer, und zum anderen wird die Gefährlichkeit seiner Mission noch viel deutlicher herausgearbeitet, da er viel öfter in brenzlige Situationen gerät.
Das war nun lediglich eine kleine Auswahl der Szenen, die entweder erweitert, oder verändert waren. Es gibt aber auch diverse charakterliche Erweiterungen, die für die Endfassung geschnitten wurden. Während man z.B. in der Kinofassung einfach annimmt, dass Han Solo ein Schurke und Weiberheld ist, wird das im "Lost Cut" nochmal deutlicher unterstrichen. Nicht nur, dass er Greedo kaltblütig abknallt, nein, er beobachtet auch entzückt die Auseinandersetzung zwischen Luke, Obi-Wan und den beiden Verbrechern Cornelius Evazan und Ponda Babas, Stichwort "Ich bin auf zwölf Sternen zum Tode verurteilt". Während Ponda seinen Arm verliert küsst Han teilnahmslos seine Freundin. Auch eine Szene, in der Lukes Freundschaft zu C-3PO manifestiert wird, hat es nicht in die Endfassung geschafft. So versucht Luke den "Haltebolzen" wieder anzubringen, nachdem er 3POs Arm repariert hat. Der Droide versucht dabei jedoch auszuweichen und beide sehen sich eine kurze Weile an, bevor Luke den Haltebolzen wieder beiseitelegt. Ebenfalls wird die beginnende Freundschaft zwischen Han und Luke auf dem Millennium Falcon deutlicher herausgearbeitet, nachdem sie bei der Flucht vom Todesstern, den Kampf gegen die Tie-Jäger überstanden haben. Hier fehlen diverse Dialoge.
Da man offenbar auch von der Qualität der Spezialeffekte durch die Effektschmiede Industrial Light & Magic (ILM) noch nicht vollends überzeugt war (würden sie wirklich brauchbar werden? Und vor allem: würden sie überhaupt rechtzeitig fertig werden?), produzierte man auch regelmäßig Live-Action-Effekte. Cockpit-Szenen (im Millennium Falcon, oder auch Landspeeder) wurden teilweise nicht vor Bluescreen, sondern mittels Rückprojektionen gedreht, für den Fall, dass die richtigen Effekte nicht fertig, oder gar schlecht aussehen würden. Dadurch waren diese Szenen durchweg im "Lost Cut" vorhanden. Dass ILM so unfassbar gute Arbeit abliefern würde, war nie zu 100% sicher und so erstaunt es auch nicht, dass viel Spannung durch zusätzliche Szenen aufgebaut werden musste inkl. der tieferen Beleuchtung von Nebencharakteren. All das konnte dann im Zuge der atemberaubenden Effekte wieder fallengelassen werden, wodurch die Kinofassung wieder um einiges kürzer wurde.
Der verlorene Slapstick
Was Reynolds überhaupt nicht fassen konnte, waren teilweise völlig unterirdisch komödiantische Situationen, die ebenfalls ernsthaft produziert worden waren und letztlich – glücklicherweise – in der Endfassung nicht mehr auftauchten. So gab es Quasi-Slapstick-Einlagen, nachdem die Rebellen-Gruppe aus der Schrottpresse des Todessterns entkommen war: Man stelle sich die Szene aus Kevin - Allein zu Haus vor, in der die "feuchten Banditen" mit dem Van Kevin verfolgen. Als sich Kevin umdreht und sieht, dass er beschattet wird, bremsen die beiden, schauen umher und pfeifen ein Liedchen, als seien sie einfach nur zufällig da. In der Art verhielt es sich mit Han, Luke, Leia und Chewbacca wenn sie einer Gruppe Sturmtruppler über den Weg liefen – sie schauten teilnahmslos umher und spielten an ihren Blastern (!). Eine andere verrückte Szene wird durch das Bild von der Titelseite des Magazins visualisiert (s.o. die "kleine Person und die Beine eines Riesen"): Hierbei handelt es sich um ein Easteregg. Der Name der kleinen Person lautet Flash Gordon und er rennt auf der Flucht vor dem Riesen zwischen dessen langen Beinen hindurch. Diese Szene wurde letztendlich im berühmt-berüchtigten Star Wars Holiday-Special recycelt. Der "Erfolg" jenes Machwerks spricht für sich.
"Star Wars: Episode IV - Eine neue Hoffnung" Trailer 1 (dt.)
Welche Laufzeit hatte der "Lost Cut"?
Wie lange der "Lost Cut" abschließend ist oder war, kann nicht genau zurückverfolgt werden. Auf jeden Fall existiert dieser im Archiv als Schwarzweiß-Stummfilm auf 13 Spulen, wobei Reynolds für seinen Artikel Farbillustrationen der Original-Filmrollen ergattern konnte, die in jener Augabe des OSWM veröffentlicht werden konnten und mittlerweile auch online zu finden sind. Um nun die Gesamtdauer des "Lost Cuts" berechnen zu können, fehlt freilich die Größe (Durchmesser) der Spindeln. Für gewöhnlich wurde auf 10-Minuten-Spindeln (27cm) gefilmt, was bei 13 Spulen eine Gesamtlänge von 130 Minuten ausmachen würde – somit wären wir bei etwa 10 Minuten Zusatzmaterial (zusätzlich zum Alternativmaterial). Es ist natürlich auch nicht ausgeschlossen, dass 38cm-Spindeln benutzt wurden, bzw. das Filmmaterial nachträglich auf diese größeren Spulen gewickelt wurden. Diese beherbergen stattliche 20 Minuten pro Spindel, was die gesamte Länge deutlich verändern würde. Dies fällt jedoch in den Bereich der Spekulation und soll hier nicht abschließend diskutiert werden.
Zum Schluss des OSWM-Artikels resümiert Reynolds seine Recherche: „Es war eine faszinierende Reise durch ein wohlbekanntes Land, in dem alles anders wirkte.“
Was denkt ihr? Würdet ihr auch gerne mal den "Lost Cut" sehen? Reizt es euch, diesen Film einmal mit ganz anderen Augen zu sehen?
