Bewertung: 4 / 5
In den 90ern gab so manches, an dem man nicht vorbeikam. Helmut Kohl zum Beispiel. Oder Baywatch. Dem Game Boy. Der Love Parade. Und Tonya Harding. Die "Eishexe" und das Attentat Anfang 1994 - irgendwie erinnert sich jeder daran, so als ob es erst kürzlich war. Craig Gillespie (The Finest Hours) hat die Geschichte um die geschasste Eiskunstläuferin mit viel Humor in die kollektive Erinnerung zurückgeholt, die mit drei Nominierungen ins Oscarrennen geht und auf Bestnoten hofft.
I, Tonya Kritik
Die kleine Tonya wird von ihrer Mutter LaVona Harding (Allison Janney) schon früh auf die Eisfläche verfrachtet, wo Fleiß und Drill aus dem "White-Trash-Nachwuchs" eine aussichtsreiche Eiskunstläuferin formen. Doch ihre Herkunft, ihr Auftreten und nicht zuletzt ihr aufbrausender Charakter stehen ihrem Aufstieg lange Zeit im Weg, und trotzdem schafft es Tonya (Margot Robbie), zu den besten der Welt zu gehören. Als erster Frau gelingt ihr der dreifache Axel bei einer US-Meisterschaft und so rücken Weltmeisterschaften und Olympische Spiele in greifbare Nähe. Und dies gilt auch für Nancy Kerrigan (Caitlin Carver), Konkurrentin aus der Heimat - für die sich Tonyas Mann Jeff (Sebastian Stan) eine kleine Überraschung hat einfallen lassen...
Trailer zu I, Tonya
Sportler-Biopics, wie auch generell Filmbiographien, sind nicht immer leicht zu genießen. Mal zu schwer, mal zu lang, mal zu detailreich gelingt es nicht immer, den Spagat zwischen Realitätsbezug und guter Unterhaltung zu schlagen. Mit I, Tonya ist Regisseur Craig Gillespie eine schwarzhumorige "Hommage" gelungen, die neben dem Besten Schnitt auch für Hauptdarstellerin Margot Robbie sowie die großartige Allison Janney einen Oscar bereithalten könnte. Zwar glauben wir kaum, dass Robbie bei der Konkurrenz gewinnt, aber Janney könnte Glück haben. So schön verachtenswert war selten.
So wie schon der wundervoll prägnante Filmtitel Selbstbewusstsein andeutet, so lief auch die echte Tonya Harding und so spielt auch Robbie. Nie um einen Schuldspruch für andere verlegen, selbstbewusst und voller Kampfgeist, so erlebt man sie während der 119 Minuten Laufzeit. Gedrillt von ihrer wenig warmherzigen, aber umso ehrgeizigeren Mutter bleibt ihr gar nichts anderes übrig, als ihr Wohl im Sport zu suchen, für ein kleines bisschen Anerkennung und Erfolg. Glücklicherweise meint es das Talent gut mit ihr, doch leider trifft Harding nicht immer die besten Entscheidungen. Anderen werden diese verziehen, ihr nicht.
Und so schafft es der Film, trotz mancher kleinen Spitze, die echte Tonya Harding, welche inzwischen Tonya Maxine Price heißt, nicht der Lächerlichkeit preiszugeben und ihre leidvolle Rolle in der Geschichte nicht erneut bis ins letzte Detail fürs Publikum zu sezieren. Vielmehr wird die Geschichte als Anlass genommen, eine starke junge Frau zu präsentieren, die 1994 sicherlich keine glorreiche Rolle spielte, aber eben auch kein verkommenes Biest ist, zu dem sie einst gemacht wurde und was ihr bis ans Lebensende nacheilen wird.
Man kann I, Tonya vorwerfen, etwas zu lang zu sein. Dass die Maske aus der bildhübschen Robbie keine überzeugende 15-jährige gemacht hat, trotz 80s-Friese und Zahnspange. Und dass Robbie sich fast zu sehr anstrengt, in der Rolle zu glänzen nebst Eiskunstlauf. Aber all das ändert nichts daran, dass die Story um eine einst aussichtsreiche Sportlerin mit viel Esprit und Charme erzählt wird und es dabei gar nicht nötig ist, groß auf die Konkurrenz - ob Witt, Bajul, Bonaly und nicht zuletzt Kerrigan - einzugehen.
Vielleicht sogar, weil Robbie in Szenen als Endvierzigerin Ähnlichkeiten mit der deutschen Komikerin Martina Hill (Knallerfrauen) aufweist, wirken ihre Aussagen im Dialog mit der Kamera umso grotesker, wenn die eigene Bedeutung immer wieder geschmälert und beißend auf die Schuld von anderen verwiesen wird. Laut Robbie hat die echte Tonya sehr wohlwollend auf den Film reagiert. Als Person des öffentlichen Interesses, deren Ruf durch eigenes Zutun einst irreparablen Schaden nahm, bekommt sie mit I, Tonya sicherlich keine Reputation, aber schlussendlich doch wieder ein etwas menschlicheres Profil.