Bewertung: 4.5 / 5
"Ich will mich nicht darauf einlassen, ich will weg!"
Mit "Hereditary" hat Ari Aster den Horrorfilm geschaffen, bei dem ich bisher am meisten Panik hatte und der definitiv zurecht zu den besten Horrorfilmen der letzten Jahre zählt. Hoch waren daher meine Erwartungen an Asters zweites Werk, "Midsommar", dessen Trailer mich schon im Vorfeld begeisterten - und der Film hat mich nicht enttäuscht, im Gegenteil.
Trailer zu Midsommar
Sich von einem traumatischen Ereigniss erholend beschließt Dani (Florence Pugh) mit ihrem Freund Christian (Jack Raynor) und dessen Studiengruppe eines der legendären Midsommarfeste in Schweden zu besuchen, obwohl Mark (Will Poulter) nicht sonderlich begeistert über ihr Beisein ist. Während die Gruppe zunächst herzlich in der entlegenen Gegend empfangen wird, fallen ihnen direkt nach der Ankunft merkwürdige Eigenheiten auf: Um 9 Uhr Abends scheint nach wie vor gleißend hell die Sonne, während sich die Einheimischen kaum unterschiedlicher zu den Studenten benehmen könnten. Als dann ein spezielles Ritual beginnt, wird Dani klar, dass sie schleunigst verschwinden sollte.
Die Sichtung des Filmes ist schon eine längere Zeit her (vom Zeitpunkt des Verfassens hiesiger Kritik gesehen) und seit Wochen schiebe ich diese, mittlerweile längst überfällige, Kritik vor mir her. Warum ich mich nicht so recht herangetraut habe, liegt in der einzigartigen Symbolik, den genialen Andeutungen und den tiefgründigen Interpretationsmöglichkeiten des Filmes begründet. Denn genau genommen möchte ich auf "Midsommar" aufmerksam machen, ohne zu viel verraten, gleichzeitig aber auch eine Interpretation schreiben, die dessen viele, versteckte Eigenheiten analysiert. Daraus folgend werde ich vor dem Fazit nochmal in einem gesonderten, markiert spoilernden Part zumindest kurz auf verschiedene Motive und Ansätze eingehen, was nur Leute lesen sollten, die den Film bereits gesehen haben oder mit hunderprozentiger Wahrscheinlichkeit nicht sehen werden.
Zunächst aber mal zu Punkten, die ich auch ohne inhaltliche Details abarbeiten kann:
Ich glaube, so langsam bürgert es sich bei mir ein, dass ich mit dem Negativen beginne. Da gibt es bei "Midsommar" herzlich wenig, zu kritisieren sind nur die teils zu kurz gekommenen Charaktere. Wenngleich Dani eine extrem gute Hintergrunderklärung erhielt, welche ihre folgenden Taten, ihre Zukunft, perfekt nachvollziehbar machte und schon von selbst verdammt bitter war, blieben leider alle anderen mehr oder weniger wichtigen Personen - mit Außnahme ihres Freundes Christian - ziemlich blass. Abgesehen von ihm, der zumindest eine eingängige und glaubhafte Charakterisierung zugeschrieben bekam, wirkten die Randfiguren dadurch oft wie bloßes Beiwerk, was ihren Schicksalen etwas von der Wucht nahm, die sie hätten haben können. Der ein oder andere Satz mehr über ihre Vergangenheit, Wünsche und Träume wäre da definitiv zuträglich gewesen.
Hingegen portraitierte die Darstellerin von Dani, Florence Pugh, ihre Figur perfekt und verdient meines Erachtens einen Oscar für ihr grandioses Schauspiel, während auch die übrigen Mimen allesamt eine starke Leistung ablieferten, den fehlenden Hintergrund ihrer Charaktere aber nicht wieder wettmachen konnten.
An der erschütternden Konsequenz des Filmes änderte das letztendlich nichts. Nach einer unvergesslich heftigen Eröffnungssequenz brauchte der Film zwar, bis er wieder Fahrt aufnahm, blieb aber durchgängig interessant und atmosphärisch, sodass er keine Sekunde langweilte, obwohl sich seine Laufzeit von 140 Minuten wie drei Stunden anfühlte. Ab einer bestimmten Szene gab es allerdings einen überwältigenden Wendepunkt, nach dem der Film - im positiven Sinne - immer gestörter und verstörender wurde. Das Schlimme (bzw. Gute) an den folgenden Entwicklungen war, dass man sie zwar vorhersagen, nicht aber abwenden konnte. Man sah als Zuschauer Ereignisse kommen, von denen man nicht wollte, dass sie den Charakteren zustießen und konnte nichts dagegen tun, was dann in dem absolut erschreckenden und bitteren Finale gipfelte, bei dem mir die Figuren ziemlich leid taten.
Die Horrorelemente des Streifens verstärkten dieses Gefühl um ein Vielfaches. An mehreren Stellen hatte ich nicht nur Angst, sondern richtige Panik, hatte das Bedürfnis, mir die Hände vor die Augen zu halten, bei einer Szene hatte ich Tränen in den Augen und als endlich der Abspann rollte, habe ich vor Erleichterung erstmal 30 Sekunden die Augen geschlossen. Dass ich danach lachen musste, weil "Midsommar" so übermäßig genial und ich praktisch noch nie so glücklich war, verstört worden zu sein, spricht wohl für sich. Besonders daran: der Film spielte beinahe ausnahmslos im Hellen, wodurch er sich auf keine dunklen Ecken verlassen konnte, um den beschriebenen Horror zu erzeugen. Mit seiner greifbar dichten Atmosphäre, den abartigen Verstrickungen und den krassen Gewaltszenen schaffte er es dennoch, sich neben den Filmen einzureihen, bei denen ich mich bisher am meisten gefürchtet habe.
Diese Gewaltmomente waren es, die den Streifen so intensiv machten und mir auch auf ewig im Gedächtnis bleiben werden. In ihrer schockähnlichen Effektivität könnte man sie als den filmeigenen, perfekten Ersatz für - in dem Falle extrem gelungene - Jumpscares beschreiben, mit dem Unterschied, dass sie um einiges potenzierter wirkten. Die Sexszene des Filmes stand dem in Nichts nach, auch sie war maßlos verstörend und definitiv unvergesslich; etwas so Absurdes habe ich noch nicht gesehen. Kein Wunder also, dass der Film nur in der Zweitprüfung die FSK 16 erhielt.
Dieser Freigabe kann ich mich definitiv nicht anschließen, denn dazu ist das Gezeigte weit zu heftig. Das zerfetzte Bein, der aufgeschnittene Rücken ... von der schlimmsten Szene dabei gar nicht erst zu sprechen. Von daher würde ich dem Film eine 18er Freigabe verpassen, welche meines Erachtens angemessener wäre.
Für die erwähnte Atmosphäre sorgte in erster Linie der grandiose Soundtrack, welcher auch schon abseits vom Film eine unangenehme Wirkung hat. Wie kontrastreich er jedoch den Streifen selbst umrahmte - beispielsweise begleitete ein Lied namens "The Sun Aint Gonna Shine (Anymore)" den Abspann - war einzigartig und wie er dabei Sirenengeräusche, den Atem, das Stöhnen und das Weinen der Charaktere aufgriff, an Brillianz nicht zu überbieten. Damit unterstrich die Musik gesonderte Momente extrem eindrücklich, wodurch sie die ohnehin überragenden Bilder noch weiter pointierte.
Anzumerken ist, dass der zu Beginn des Filmes vorkommende Humor in den äußerst gut geschriebenen Dialogen sehr amüsant und dennoch so passend eingesetzt war, dass er die Stimmung nicht unterbrach und der Film nichts von seiner Spannung verlor.
Daran, dass der Film auch in den ruhigen Momenten durchgängig interessant blieb, hatte die außergewöhnliche und erfrischend unkonventionelle Kameraführung mit ihrer einzigartigen Bildsprache (hierzu im Spoilerpart mehr) einen großen Anteil. Die Optik, mit ihren hellen Farben, die Sonne, sich spiegelnd in der Kamera, die konterkarierende Kolorierung, welche perfekt mit dem unangenehmen Soundtrack harmonierte, die sich bewegenden Bildelemente, wenn ein Charakter unter Drogen gesetzt wurde und die abwechslungsreichen Kameraeinstellungen, begleitend zu einer sonst unscheinbaren Autofahrt - all das passte einzigartig zu den subtilen, tiefgründigen Ansätzen des Filmes. Sei es über die positiven und negativen Aspekte zwischenmenschlicher Nähe, über den Zerfall und Wiederaufbau von Gemeinschaften sowie über die Manipulation von Menschen durch die Suggerierung von Gleichgesinnung und Geborgenheit. Gleichzeitig war es mehr als beeindruckend, wie der Film spätere Ereignisse bereits verborgen vorauswarf und Schicksale andeutete, was man erst bei einer zweiten Sichtung bemerken kann. Und bevor ich zu viel verrate, springe ich mal in den Spoilerpart.
- SPOILER -
Ab hier nur lesen, wer den Film kennt oder definitiv nicht sehen wird!
Die Tiefgründigkeit, die ich nun mehrfach ansprach, lädt zu sehr zur Interpretation ein, um dazu nichts zu sagen. Allein schon, dass die erste Einstellung des Filmes ein antikes Bild über seine späteren Entwicklungen ist, ist schlicht genial. Auch dass Dani (und teils Christian) zu Beginn immer wieder außerhalb der Kamera, außerhalb der Gruppe, über einen Spiegel zu sehen sind, zeigt bereits, wie sehr sich sie bzw. die beiden später von ihren Freunden abheben werden.
Ein weiteres, grandioses Motiv ist, dass Danis Schwester an der Familiengemeinschaft zerbrach und Dani als Gegensatz in ihrer späteren Familie, der Sekte, wahnhaftes Glück findet. Während das Haus mit ihren alten Freunden - und auch mit ihren alten Erinnerungen - zusammenbricht, zerfällt auch ihre Seele, doch sie lacht und hat ihren Platz gefunden. Dass sie zuvor in diesen Wahn getrieben wurde, indem die Sekte ihre Wut bis ans äußerste kanalisierte und mit ihr mit schrien und tobten, begriff sie zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr. Dennoch hat ihr diese Verbundenheit, dieses sich-unter-Gleichgesinnten-Fühlen mit Sicherheit auch bei der Verarbeitung ihres nach wie vor unbewältigten Traumas geholfen. Christian hatte sich ebenso nach genau dieser Nähe gesehnt, ist den angebotenen Verlockungen erlegen und erhielt dafür ein ihn von seinen Sünden "reinigendes" Ende. Und die Erlösung, die Dani dabei gespürt haben muss, soll als moralische Diskrepanz auch der Zuschauer spüren, was das fröhliche Lied im Abspann andeutet.
Und das sind nur spontane Gedanken, die mir momentan noch zum Film im Kopf kreisen, direkt nach einer erneuten Sichtung lassen sich sicher Romane über die philosophische Doppeldeutigkeit des Werkes schreiben.
- SPOILER ENDE -
Ja okay, diese Review ist viel zu lang geworden. Aber "Midsommar" ist ein Film, der es verdient, ausführlich besprochen zu werden. Er ist ein Meisterwerk, einer der besten Horrorfilme und von all den Filmen, die 2019 erschienen sind, der beste. Ja, ich lege mich fest - das ist der beste neue Film des Jahres und das obwohl es da einen "Once upon a Time in Hollywood" und einen "The Irishman" (Review hierzu folgt auch noch) gab. Wer den Film noch nicht gesehen hat, sollte das also schleunigst nachholen.
Als Horrorfilm erhält er 10 Punkte, als Drama 9 Punkte, als künstlerischer Film 9,5 Punkte und insgesamt
9 von 10 Punkten.