Man darf mit Fug und Recht fragen, ob es wirklich immer der eine große Serien-Hit im Streaming-Zeitalter sein muss. Eigentlich sind Streaming-Projekte mit ihren Abonnement-Services doch genau so konzipiert, dass man, im Gegensatz zum linearen Fernsehen, auf eine möglichst breite Streuung an Inhalten setzen kann und muss. So können unterschiedliche Gruppen von Menschen an Bord kommen und sich ihren eigenen Sitzplatz aussuchen, der ihnen hoffentlich behagt. Kern des Geschäftsmodells war also zu keinem Zeitpunkt, dass man mit einem Projekt allen Leuten die identischen Sitzplätze anbietet, sondern eine gewisse Diversität und Flexibilität des Contents unterstützt.
Es ist natürlich toll, wenn Netflix Leuchtturm-Serien wie Orange Is the New Black, Das Damengambit, Bridgerton oder Squid Game für ein Millionen-Publikum abfeuert, doch die Masse der Menschen bleibt einem am treuesten, wenn man sie langfristig mit weiteren Staffeln einer nischigen Serie bei der Stange hält. Schließlich möchte man auch einfach mal etwas abseits von Hypes und Clickraten für sich ganz alleine sehen und das Gefühl haben, dass das Projekt genau wegen seiner spezifischen Eigenheiten und seines fehlenden Mainstream-Appeals so toll ist. Die Vorstellung ist natürlich eine Illusion, doch hin und wieder tut eine solche Einbildung für den Medienkonsum ganz gut, bei dem per Definition imaginäre Kräfte zugegen sind.
"Bridgerton" Season 2 Trailer 1 (dt.)
Wenn die Preise weiter steigen, der Content stetig ausgedünnt wird und sogar Werbefilmchen zum sowieso schon vorhandenen Product Placement innerhalb der Produktionen zur Party kommen, könnte irgendwann eine Art Dammbruch einsetzen. Der berühmte Sinnspruch "Too Big to Fall" hat schließlich schon ganz andere Schwergewichte der Entertainment-Branche den Stecker gezogen, obwohl man mit einer kundenfreundlicheren Gestaltung dagegen etwas hätte unternehmen können.
Tss, mir ist das aber alles mittlerweile egal, weil es nicht die Dynamik versprüht, die ich mir für mein Leben wünsche. Ich mache nun alles auf die einzig wahre Netflix-Art: Den Erkältungstee sachgemäß zehn Minuten ziehen lassen? Ich bin doch nicht blöd! 180 Sekunden müssen dafür reichen - und das ist bereits großzügig bemessen, schließlich hat das beim Grünen Tee auch zum besten Ergebnis geführt. Mein neuer Algorithmus lässt mich niemals im Stich, auch wenn der Erkältungstee jetzt unheimlich fad schmeckt und trotz seiner Bitterkeit nicht einmal richtig wirkt. Argh, dieses grässliche Fieber bringt mich noch um! Doch wenigstens habe ich mit meiner neuen Taktik massig Zeit gespart. Satte sieben Minuten sind doch eine gute Ausbeute!
Die Devise ist ganz einfach: Wenn das Zirkuspony nicht durch den funkelnden Feuerreifen springt, dann schick ich es eben zum Schlachter und hole mir ein dressiertes Maultier. Das schafft den Sprung zwar auch nicht, doch immerhin ist das eine tolle Show und obendrein hinterlässt es auch keinen blöden Nachwuchs. Denn wie wir wissen, kann man alles in eine wunderbare Formel pressen, die bloß nicht auf die Gründe hin befragt werden soll.
Vielleicht ist irgendwann endlich die Wundermedizin unter den Heißgetränken am Start, das all die dargebotenen Opfergaben in Form wirkungsloser Tees für mein grässliches Fieber rechtfertigt. Also weg in den Abfluss mit dem Gesöff und rasch irgendetwas Neues herangekarrt. Wo das herkommt, gibt es schließlich noch eine ganze Menge mehr auszutesten und ich will mich ungern mit meinen kategorischen Denkfehlern herumärgern. Insgeheim wäre es aber natürlich besser, ich würde den Tee gleich ganz meiden, bevor er mir noch schmeckt oder gar Wirkung zeigt und mir im Nachgang dann womöglich wieder einmal der (Trink-)Stoff ausgeht.
Mal sehen, was ich nun schauen kann, das mich hoffentlich nicht so lange an den hiesigen Dienst knechtet, weil man mich bereits nach allerhöchstens drei, eher wohl aber ein bis zwei Staffeln unbefriedigend mit einem möglichst spannendem, offenem Ende erlöst. Das ist der Weg und siehe da: Er ist unabdingbar gut!
Wo war nun noch einmal diese eine tolle Serie? Ach, ist auch egal, dann schaue ich eben die lustige Werbung mit dem tapsigen, sprechenden Pinguin der meine Kreditkartendaten für eine kleine Finanzspritze möchte. Mittlerweile kann ich mich sogar mit besagten Cliffhangern anfreunden. Kleine Kostprobe gefällig? „Und wenn sie nicht gestorben sind …“