
Ich habe Fieber, mir ist heiß und ich brauche etwas Ruhe. Dann nehme ich mir eben eine kuschelige Decke und schaue bei einem wohligen Heißgetränk bequem auf der Couch meine persönliche Lieblingsserie „canceled“ auf Netflix.
Was zum?! … Die wurde ja abgesetzt? Das kann doch nicht … das ist ein absoluter Skandal! Darüber sollte jemand einen gesalzenen Text verfassen …
Ich nehme mir die Zeit, Netflix aber offensichtlich nicht
Wer hätte gedacht, dass die überaus sportliche Absetzungswut von vielversprechenden Formaten beim Streaming-Unternehmen Netflix einmal selbst zum seriellen Phänomen würde? Mittlerweile kommt man nicht umhin, zu meinen, dass die dafür eingesetzten Abteilungen ebenfalls expandieren wollen. Wären die gestrichenen Formate von Netflix ein Tierversuch, dann wäre es wohl eine Mischung aus Eintagsfliege und Goldfisch:
Das beklagenswerte Wesen vergisst unheimlich schnell, lebt dafür aber nicht lange. Sein Halter fängt prompt wieder mit neuen Experimenten und Versuchsreihen an, weil er emotionaler Bindung sowieso nicht sonderlich viel abgewinnen kann. Diese Definition des Wahnsinns erinnert unfreiwillig an Und täglich grüßt das Murmeltier, nur verfügt dieses reale Szenario über wenig Charme und Witz.
Was wurde eigentlich aus dem neumodischen Mantra der Entschleunigung (engl. „Slow burn“), das uns dieser Tage ebenso in den Ohren liegt wie der Drang nach ständiger Selbstoptimierung und Offenheit gegenüber dem Unbekannten und Neuen? Wo sind die ultra-harten Schreibtischtäter von Netflix, wenn es darum geht, diese mittlerweile lebensnotwendigen Konzepte und Bedürfnisse in Serienform zu gießen? Wie, die sind nicht mehr da? Wohin denn? Ach, die wurden abgesetzt, brutalst gemolken, gescholten, verbannt, gecancelt, begraben und in die ewigen Jagdgründe zum Verrotten geschickt?
Wo genau der sagenumwobene Netflix-Friedhof ist, möchtet ihr wissen? Na da muss man schon bei den kampferprobten Frauen von GLOW fragen. Die meinen, dass The OA, Raising Dion, Another Life, Hit & Run, Cowboy Bebop, Daybreak und Co. erst der Anfang waren. Vielleicht ist dazu etwas im verbotenen Archive 81 gemeinsam mit Locke & Key zu entschlüsseln, doch das ist leider nicht mehr zugänglich. Die tüchtigen Mindhunter? Längst in den Ruhestand geschickt. Hach, wie sehr ich mich doch nach einem Rettungsschirm für all die verlorenen Projekte sehne. Wo sind eigentlich die Superhelden von The Umbrella Academy, wenn man sie mal braucht, um den berühmt-berüchtigten Absetzkönig in seine Schranken zu weisen!?
Bei solchen Verwicklungen wird mein Sense8 geweckt und ich würde nur zu gern die Space Force zur Aufklärung des Sachverhalts einberufen, doch auch die finde ich bedauerlicherweise nirgends mehr … Ich denke, dass ihr es kapiert habt, doch um es noch einmal deutlich zu machen: I Am Not Okay with This!
"Locke & Key" Season 2 Trailer 1 (dt.)
"I Am Not Okay With This" Season 1 Trailer 1
Wie so viele Menschen da draußen entwickle ich mich tagtäglich weiter, lerne neue Dinge, höre zu, sehe hin und bin wissbegierig, wie man andere Perspektiven auf bekannte Fragen gewinnen kann. Und selbstverständlich streife ich mein altes Selbst nicht so einfach gleich eines zu klein gewordenen Anzugs ab, wie es diese martialische Streaming-Walze Netflix mit ihren Serien nun beinahe im monatlichen Rhythmus unternimmt.
Anders gesagt: Kann ich nicht ein wenig Kontinuität für meinen Serien-Alltag erwarten, wenn sogar ein wenig flexibler Mensch wie ich es schafft, sich ins Zeug zu legen und einigermaßen zu verbessern? Manche Dinge brauchen eben Zeit, damit sie gedeihen und wirken können. Diese einfache, aber wahre Lebensweisheit wird man doch wohl auch beim Streamen von Serien erwarten dürfen.
Was bin ich froh, dass man beispielsweise bei HBO eine Serie wie The Wire trotz der damals mäßigen Einschaltquoten erfolgreich zu Ende geführt hat! Erst durch diesen unerschütterlichen Glauben konnte ein Stück Kulturgut für die Serienlandschaft geschaffen werden. Natürlich möchte ich nicht sagen, dass jeder Serie eine solche Strahlkraft mit genügend Spieldauer gegönnt wird, doch manche Formate können sich eben erst entfalten, wenn sie die Chance auf eine längerfristige Etablierung erhalten.
Die wendungsreichsten und spannendsten Seriengeschichten kristallisieren sich zumeist erst aus einer umfassenderen Spieldauer und möglichst viel Vertrauen in das Produkt heraus. Dabei sind die Plots eben deutlich mehr als die Summe ihrer Teile und oft braucht es wohl eher den Atem eines Marathon-Läufers als den eines Sprinters. Ans Ziel kommt bei Netflix aber leider oft nur der geübte Hundert-Meter-Sprinter: Ein aalglatter Typ, der dem Ruhm schon bei Startantritt entgegenhechelt, alle anderen verdrängt und sich mit inbrünstig herausgestreckter Brust in die Zielgerade schmeißt.
Des Weiteren ist es wichtig, dass man den Formaten faire Spielzeiten im mitunter hektischen und unübersichtlichen Streaming-Alltag einräumt. Schließlich werden wir heutzutage mit Content überflutet, dass sich die Cinemascope-Balken biegen. Hier ein neuer Film auf Amazon Prime, dort eine neue Apple-Serie und … „Oh, hast du bereits XY gesehen, nein? Die MUSST du auch noch schauen!“ Bei alledem bleibt kaum Zeit, um in den ersten Wochen eines neuen Streaming-Formats einzuschalten, das einen wiederum für eine gewisse Zeit bindet, indem es ganz exklusiv die persönliche Aufmerksamkeit verlangt.