Bewertung: 4.5 / 5
Heute steht ein weiterer vorläufiger Abschluss auf dem Programm. Nachdem ich meinen Rassismus-Zyklus abgeschlossen habe (Reviews zu King Kong, Green Book, Black Panther, BlackkKlansman, Guava Island, Dolemite, Suburbica, Antebellum, sowie den Serien American Crime Story, Watchmen, Hunters (mit Abstrichen) und zuletzt Fargo), meine Review-Reihe zur Diskussion "Eine Frau sollte immer wissen, wo ihr Platz ist" (Reviews zu Vom Winde verweht (hier in der Diskussion natürlich auch Rassismus ein Thema), Shapeof Water, Es war einmal in Amerika, Bedevilled, Mad Max, Roma, Die Sehnsucht der Schwestern Gusmao, Das Lied der Strasse, Roma, Mother, Mulan, Delhi Crime und zuletzt Promising Young Woman) bendet habe, kommt nun der vorläufige Abschluss des "Klassenkampfes" (bisherige Reviews hier Yol, Burning, wieder mal Roma, Joker, Snowpiercer, Memories of Murder, The Host, Parasite). Und im prinzip kann es hierfür keinen besseren Film geben als White Tiger. Das Arm-Reich-Gefälle und die soziale Ungerechtigkeit hat in Indien solche Ausmasse, dass man fast schon - streicht das fast schon ! - von Sklaverei reden muss!
White Tiger ist dabei eine astreine Literaturverfilmung und bewusst als Antithese zum Wohlfühlsozialmärchen Slumdog Millionaire konzipiert. Dabei wird wie üblich in literarischen Biografien eine Rahmenhandlung erzählt, in der der Protagonist aus seiner jetzigen Situation heraus sein Leben Revue passieren lässt. Da es ihm heute sehr gut geht, und er aus den ärmlichsten Verhältnissen kommt, wird einem Anfangs immer wieder ein positiver und märchenhafter Aufstieg suggerriert, gleichzeitig wird einem auch immer wieder jegliche Hoffnung darauf von Anfang an genommen. Wenn der Junge am Anfang ein extrem begabter Schüler ist und ihm so manch große Zukunft vorhergesagt wird, wird er in der nächsten Einstellung aus der Schule genommen, da er seine Familie unterstützen muss und Schule nunmal Geld kostet. Immer wieder fällt er auf die Fresse, immer wieder steht er auf.
Trailer zu Der weiße Tiger
Der Film zeigt dabei einerseits ungeschönt die Realität in Indien auf, die Abhängigkeitsbeziehung des armen Schluckers vom Reichen, wie er gar keine Chance hat, überhaupt voran zu kommen und nur von der Gnade des oberen abhängt, und selbst jahrzehntelange Treue nicht belohnt wird, da man ja im Grunde genommen sowieso nur Eigentum ist, dass ausgetauscht wird sobald abgenutzt. Und andererseits wird auch ganz klar gezeigt, welche perfiden Mechanismen greifen, um einen doch etwas schlaueren evtl. aus der Reihe tanzenden Knecht klein und bei Stange zu halten. Dass ein Mensch, der unten geboren ist, es auch mal nach oben schaffen könnte, gelingt in der Regel nur dann, wenn der Chef ein Waschlappen und nicht hart genug ist. Das wird auch im Film ganz klar so adressiert, indem der Chef vom Protagonisten ständig aus dem Off als Lamm tituliert wird. Hier entsteht aus einem plötzlichen Vakuum auch eine Art parasitäres Freundschaftsverhältnis, welches mit ein bißchen mehr Mut auch deutlicher die homoerotische Grenze hätte ausloten dürfen. Aber für einen indischen Film ist der vorliegende Film schon mutig genug, da muss jetzt nicht auch noch solch eine Grenze überschritten werden. Zumal in Indien letztens tatsächlich auch genau wegen Netflix, der ja zuletzt immer wieder irgendwelche gesellschaftlichen Grenzen auslotete, was in letzter Konsequenz auch zu zivilem Ungehorsam führen könnte, ein Gesetz verabschiedet wurde, was im Grunde genommen besagt, dass unbequeme Themen durchaus ein Sendeverbot und Zensur auferlegt bekommen könnten. In diese Kategorie Film fällt White Tiger ganz klar.
White Tiger ist erstaunlich offen und auch recht authentisch in seiner Beschreibung der Verhältnisse, und schönt dabei nicht wirklich. Die unteren sind dreckige Lumpen, die jegliche Erniedrigung mit einem Lächeln ertragen und sogar wenn sie angespuckt würden, die Spucke lächelnd ablecken würden, und die oberen sind selbstgerechte, herrische Götter mit der Frei-Lizens für alles. Es wird quasi im Vorbeigehen das Kastensystem in Frage gestellt, welches aber ohnehin nur eine fadenscheinige Entschuldigung dafür ist, dass man den Grossteil der Bevölkerung klein hält, die Frauenrolle in der Gesellschaft anhand zweier Archetypen definiert und demontiert (einerseits die Oma, die das Sagen hat aber in guter alter Mother India Tradition ebenjenes nicht hinterfragt sondern eigentlich neben den Reichen Ärschen sozusagen der zweite Antagonist ist, eben weil sie dafür steht, dass man sich selbst nicht befreien aus dieser Hölle befreien kann sondern immer drin versunken bleibt; und andererseits die aufgeklärte Mittelstandstochter, die zwar das Richtige tun will, aber eingenordet wird bis auch sie zerbrochen das Weite sucht), die Korruption sowohl als Fluch als auch teilweise Segen dargestellt, und schliesslich natürlich der Arme ist des Armen Wolf.
Im Grunde genommen handelt es sich hierbei gleichzeitig auch um eine neue Version des Themas in Django Unchained, unter anderem auch um das Erachen des Dieners, diesmal weil der Herr halt ein Schwächling ist, der dann anfängt, die richtigen Schlüsse zu ziehen, um aus seiner Situation zu entkommen. Und dabei trifft es auf den ersten Blick den möglicherweise Falschen, aber in letzter Konsequenz doch den richtigen. Aber das muss man dann natürlich selbst gesehen haben.
Was ist nun die Aussage des Filmes an sich: Und hier wird es wirklich tricky, und das zeigt auch nochmal die absolute Stärke dieses Werkes auf. Zum einen zeigt es ganz klar, dass das bestehende System nicht veränderbar ist, da es erstens extrem festegfahren ist, und zweitens die die es ändern könnten, gar kein Interesse daran haben, dass es geändert wird. Zum anderen zeigt es aber auch, dass eine Änderung des Systems quasi nur mit Gewalt von statten gehen könnte, d.h. die oberen, die es zulassen, würden Gefahr laufen, getötet zu werden.
Und jetzt werden wir philosophisch: ich habe Bekannte und Freunde, die schonmal in einigen afrikanischen Ländern gelebt haben in solchen Eurasier-Projekt-Kommunen, wo sie auch Bedienstete hatten. Obwohl sie sich allesamt als liberal ansehen und kein bißchen rassistisch, höre ich immer wieder, dass man DIESEN LEUTEN gegenüber nie zu freundlich werden darf, denn dann würden SIE NICHT WISSEN, WO SIE HINGEHÖREN. Sie würden frech werden und aufmüpfig, das müsse man schnellstmöglich eindämmen. Aber im gleichen Atemzug davon erzählen, dass man dem Land dort was Gutes tut. Das geht ratzfatz, dass man als Nichtrassist oder Nichtüberlegener irgendwo ankommt, und dann nicht ganz so plötzlich aber sukzessive die Bediensteten wie untere Wesen behandelt. Ein anderer Bekannter hat mir mal erzählt, dass er die Lieblings-Bediensteten immer die Reste seines Familienmahls essen lässt, weil er so ein netter Kerl ist. Uns so brutal (oder verurteilend) das erstmal klingen mag, so irgendwie ehrlich ist es auch: So ist es auch im Film. Der Protagonist hat nur deswegen eine Chance, weil sein Lamm eben ein Weichling ist.
Also was ist die Aussage des Films:
1. Als Herrschender sei möglichst rabiat und brutal und halte dein Eigentum möglichst klein, zerstöre alles, was deinen Machtanspruch untergraben könnte
2. Die Oberen werden dir nie eine Chance geben, du musst dir das alles selbst erkämpfen, und sei es mit Gewalt.
Also ein Aufruf zu zivilem Ungehorsam. Der Film ist komplett sozialer Sprengstoff, der mit seiner letzten Konsequenz eben dies auch verdeutlicht. Und er zeigt auch, dass man irgendwann um nach vorne zu kommen eben doch das eine oder andere extreme Opfer hinnehmen muss.
Und trotz dieser rabenschwarzen Prämisse und den Ausführungen, es gelingt dem Film eben doch auf einer versöhnlichen Note zu enden, so ganz anders als beispielsweise ein Nightcrawler, (und diese ganzen zynischen Filme über rücksichtslose Aufsteiger oder netten leuten, die mit der Zeit lernen rücksichtslos zu werden), der sich in seinem Pessimismus und Zynismus bis zur allerletzten Einstellung suhlte: Denn als unser Protagonist endlich oben ankommt, tut er etwas, was er die ganze Zeit eben nicht getan hat - wohl auch weil er nicht inder Situation hierfür war - er wird sich seiner sozialen Verwantwortung bewusst und übernimmt diese.
Und das ist eben auch eine Message des Films, vielleicht die wertvollste.
Eigentlich war ich bei 8 Punkten, aber nachdem was ich hier verzapft habe und ich das nochmal lese, bekommt der Streifen von mir sogar 9 Punkte.
Und das alles ohne dass ich auf die Inszenierung (schnörkellos) oder die Darsteller (durch die Bank stark, ich persönlich habe immer meine Probleme mit Mrs. Chopra-Jonas, da hier einerseits nachweislich eine der schönsten Frauen der Welt, mit schauspielerischem Talent gesegnet daher kommt, aber ihre offensichtlich mehrfach operierte Nase so irritierend auf mich wirkt, dass es mich aus jedem ihrer Filme reisst!) eingegangen bin.
9 Punkte, topfilm, sozialer Sprengstoff und eben doch Slumdog Millionaire 2.0 in einem