Bewertung: 3.5 / 5
Zu Beginn sollte man erst einmal festhalten, dass es sich hier nicht (wie ich irrtümlich dachte) um eine Adaption von Jon Krakauers Buch "In eisige Höhen" handelt, sondern um eine Adaption von Beck Weathers Erlebnisbericht "Left for Dead". Des Weiteren hatte Regisseur Kormákur nie das Interesse, die Sicht eines Journalisten am Berg zu verfilmen, sondern jene über einen professionellen Bergführer, der stirbt, und einen Everest-Touristen, der überlebt. Dementsprechend nimmt Jon Krakauer (Michael Kelly) nur eine Nebenrolle ein, während Rob Hall (Jason Clarke) und Beck Weathers (Josh Brolin) ins Zentrum der Handlung rücken. Ein großer Unterschied zu "In eisige Höhen" ergibt deshalb jedoch nicht, die Geschichte bleibt ja die gleiche.
Wir schreiben das Jahr 1996. Nachdem der Everest Jahrzehnte lang nur von professionellen Bergsteigern erklommen wurde, entwickelte sich in den 80er/90er Jahren ein zunehmender Massentourismus, der es auch Hobbybergsteigern möglich machte, auf dem Dach der Welt zu stehen. Verschiedene Organisationen wurden gegründet, die sich diesem Tourismus verschrieben und jährlich kommerzielle Expeditionen auf den Everst führten. Neben der Profitgier machte sich auch die Unerfahrenheit in der Kundenbetreuung bemerkbar, ein Wetterumschwung vom 10. auf den 11. Mai 1996 hatte schließlich den Tod von acht Menschen (darunter auch einige Bergführer) zur Folge.
Trailer zu Everest
Wenn es um die Schilderung der Ereignisse, der Charaktere und der Dramatik geht, komme ich als Leser trotz der "falschen" Buchvorlage nicht umhin, einen Vergleich zwischen dem Krakauer-Buch und dem Film zu ziehen. In dieser Hinsicht tun sich dann klare Schwächen in der Adaption auf, des Weiteren ist "Everest" ein gutes Beispiel dafür, dass sich nicht jede Geschichte unbedingt für eine Verfilmung eignet.
Im Grunde genommen stellt "Everest" ein Ensemblefilm dar, nur dass es Kormákur nicht gelingt, jeden Charakter des Ensembles gleichwertig in Szene zu setzen. Vielmehr pickt er sich ein paar Charaktere heraus und lässt die anderen zu Randerscheinungen und Stichwortgebern verkommen, was eine Identifikation stark erschwert. Gleichzeitig wird der Charakterbezug für den Zuschauer durch die Realität limitiert: Während der Everestbesteigung tragen die Expeditionsteilnehmer logischerweise Mütze, Schal, Schneebrille und wahlweise Sauerstoffmaske. Anstelle von individuellen Gesichtern sieht man nur einen Haufen Stoff in verschiedenen Farben. Letzteres ist also nicht Schuld der Regie, sondern des Mediums Film an sich. Denn in Buchform hat der Autor (Krakauer) die Möglichkeit, jedem Beteiligten einen Namen zu geben und somit Individualität zu verleihen. Obendrein kann er ohne Mühe Hintergrundinformationen einfließen lassen, für die man im Film wohl ein störendes Voice-Over nutzen müsste. Die Einzelschicksale werden daher viel detaillierter ausgearbeitet, weshalb das Buch die "Ensemblethematik" auch locker stemmen kann.
Allzu negativ wirkt sich dies auf den Film allerdings nicht aus, denn zu den wenigen Charakteren, denen sich Kormákur intensiver widmet, kann man trotzdem eine sehr gute Bindung aufbauen. Jason Clarke, Josh Brolin, John Hawkes, Robin Wright, Emily Watson, Keira Knightley (und Jake Gyllenhaal) helfen ihm dabei tatkräftig. Obendrein versteht es Kormákur, die Wucht, Schönheit und Gefahr des Everests in beeindruckenden, dokumentarisch anmutenden Bildern einzufangen. Die erste Hälfte des Films ist zwar von einigen Längen durchzogen, aber als sich das Unglück anbahnte und verschlimmerte, wurde ich mehr und mehr von den Ereignissen gepackt.