Bewertung: 3.5 / 5
Überraschend viel Zeit nimmt sich Marc Webb für die Charakterentwicklung. So dauert es eine ganze Weile, bis Peter sich zum ersten Mal mit seinem Spider-Man-Kostüm in Schale werfen kann. Der Weg bis dorthin ist lang, die Transformation dann aber fast wieder zu schnell. Fast eine Stunde vergeht, bis die erste Actionszene passiert und der Film in diesem Bereich Fahrt aufnimmt. Dies bildet dann aber einen schönen Kontrast zu den üblichen Effekthaschereien in anderen Filmen und bringt die Protagonisten dem Zuschauer erstaunlich nahe, selbst wenn auch mit dem Lizard erst sehr spät im Film zu rechnen ist. Besonders zu betonen ist hingegen, dass die Chemie zwischen Emma Stone und Andrew Garfield stimmt, die nicht nur für ihre Rollen ausgezeichnet gecastet wurden, sondern einfach wunderbar harmonieren. Überhaupt gelingt es Webb, mit seiner Charakterzeichnung Emotionen beim Zuschauer zu wecken. Die Besetzung ist insgesamt nicht nur auf dem Papier solide, sondern überzeugt auch auf der Leinwand - aber wer hätte das von Sheen, Fields und Ifans nicht auch erwartet?
Wie Raimi verweigert sich aber auch Webb einer klaren Gut/Böse-Zeichnung und wie schon andere Schurken im Spider-Man-Universum ist der Lizard ein trauriges Produkt äußerer Umstände. Leider gelingt es Webb nicht, diese konsequent genug zu transportieren. So viel Liebe in den ersten zwei Dritteln des Films steckt, so sehr ist das Finale unnötig auf Action gebürstet. Die Sequenzen sind oft gut, aber es hat den Anschein, als verbringe Webb lieber die Zeit mit den ruhigen Momenten und will den Rest dann noch flott abhandeln. So ist es am Ende auch nicht mehr ganz plausibel, wieso sich Connors von gut zu weniger gut zu ganz böse entwickelt. Die Transformation ist zu rapide und passt nicht zu der ruhigen Entwicklung am Anfang des Films. Hierbei ist die Komplexität deutlich schmaler ausgefallen, als wir es erwartet hatten und an diesen Stellen zeigt sich auch, was in Raimis Drehbüchern deutlich besser war. The Amazing Spider-Man mangelt es trotz neuer Ideen eben an der gewissen Komplexität.
Trailer zu The Amazing Spider-Man
So bleiben zwar viele Fragen offen und werden für The Amazing Spider-Man 2 aufgehoben, aber der Film ist deutlich gradliniger und geschlossener als es bei Raimi der Fall war. Für einige Zuschauer vielleicht ein Vorteil, für uns eher ein Nachteil. Dies erklärt sich dadurch, dass vor allem durch die Dreiecksbeziehung Peter Parker/Mary Jane/Harry Osborn eine Dramatik in die Handlung der Raimi-Filme kam, die geschickt über die Trilogie hinweg aufgebaut und vertieft wurde. Aus Freunden wurden nach und nach Feinde und das hielt die Filme zusammen, was die alte Spider-Man-Trilogie für uns von anderen Superheldenfilmen abhob. Hier hätte sich selbst der hochgelobte Christopher Nolan noch etwas abgucken können. Die erwähnten Ansätze für The Amazing Spider-Man 2 (Abspann aufmerksam schauen) sind wie Brotkrumen sehr dezent ausgestreut, aber wirken teilweise doch recht plump. Schade, denn gerade tolle Cliffhanger und über mehrere Filme aufgebaute Figuren machen große Filmreihen aus.
Andererseits sind wie zu erwarten die aktuellen CGI-Tricks denen der früheren Filme überlegen, aber wie schon bei Raimi kann die Herkunft nicht geleugnet werden. Auch wenn ein ganzer, am Computer entstandener Straßenzug auf dem Papier toll aussieht, dem Auge entgeht nicht, dass hier getrickst wurde und manchmal ist weniger doch mehr. Beim Soundtrack messen sich hingegen zwei Schwergewichte. Persönlich finden wir Danny Elfmans Score markanter, doch auch James Horner gelang in The Amazing Spider-Man mit dem Hauptthema eine interessante und klangvolle Komposition. Vom 3D-Effekt waren wir einst schon bei der Preview in Berlin begeistert, wer von euch also ein Kino mit Top-Technik um die Ecke kennt, wird sich in manchen Szenen freuen.
Kurzum, The Amazing Spider-Man ist ein gelungenes Kinoabenteuer und in erster Linie deutlich anders als seine "Vorgänger". Es handelt sich um Filme, die gleichberechtigt nebeneinander stehen können und was einem letztlich besser gefällt, ist Geschmackssache. Düster oder lieber bunt, witzig oder eher ernsthaft. Nach einigen Wochen Flaute in den deutschen Kinos startet mit The Amazing Spider-Man endlich wieder ein spannender Film, der zu unterhalten weiß. Sony ist das gewagte Experiment eines frühen Reboots geglückt, auch wenn noch Luft nach oben ist und eine deutlichere Distanzierung zum Original sein muss, wenn innerhalb weniger Jahre eine Neuauflage erfolgen musste. Sollten die Fehler im zweiten Teil behoben werden, sieht die Zukunft auf jeden Fall rosig aus. So bleiben sehr gute 3,5 von 5 Hüten mit starker Tendenz zu 4.