Bewertung: 3.5 / 5
Schon mal in Marwencol gewesen? Nicht? Dann wird es aber Zeit! Willkommen in Marwen nimmt uns mit, in die Gedanken- und Miniaturwelt des US-amerikanischen Künstlers Mark Hogancamp, der wundervoll von Steve Carell gemimt wird. Eine anfangs bizarr anmutende Geschichte, die mit der Zeit eine ganz eigentümliche Kraft entfaltet.
Willkommen in Marwen Kritik
Mark Hogancamp wird eines Nachts vor einer Bar von fünf Nazischlägern dermaßen traktiert, dass er fast zu Tode kommt und Teile seines Gedächtnisses verliert. Seiner künstlerischen Begabung und Erinnerung an sein früheres Leben beraubt, hat der sensible Mann nur eine Chance, sich einen Weg ins Leben zurückzukämpfen: Er erschafft eine wundersame Miniaturwelt, in der er als US-Soldat in Belgien während des Zweiten Weltkrieges Nazis bekämpft. Unterstützt von einer Bande atemberaubender Kämpferinnen, die allesamt Charakterzüge starker Frauen aus seiner Umgebung haben...
Trailer zu Willkommen in Marwen
Aus dem Leben gerissen, zum Sterben sich selbst überlassen und mit schier unglaublicher Willenskraft wiederauferstanden: Dieses "Wunder" gelang Mark Hogancamp, dessen Geschichte und Existenz von Marwencol in Willkommen in Marwen sehr berührend erzählt wird. Ein Verdienst, der insbesondere dem Schauspiel von Steve Carell zu verdanken ist. Verletzlich, starrsinnig und immer wieder kämpfend. Man hat viel Mitleid mit diesem Mann, der sein früheres Leben verlor und stellenweise in angstvoller Starre verharrt, entglitten in ein gewalttätiges, lähmendes Kopfkino. Der sich aber wie eh und je selbstbewusst in seiner Kleinstadt als Cross Dresser bewegt und damit konsequent ruft, seht, ich bin hier, I come as I am!
Die Tatsache, dass Hogancamp diese Miniaturwelt mit all ihrer Skurrilität erschuf, wirkt dabei nur auf den ersten Blick schräg, denn die Konsequenz und Hingabe, mit der er seinem Hobby frönt, zeugt von bemerkenswerter Willensstärke. Es braucht hingegen seine Zeit, bis man sich als Zuschauer des sonderbaren Einstands und damit Hogencamps Ideenwelt ausreichend genähert hat. Denn Nazis im besetzten Belgien bekämpfen mit einer Reihe heißer Miezen in noch heißeren Klamotten traut man eher einer Uwe Boll-Verfilmung zu und entbehrt nicht einer gewissen Komik.
Die männliche Fantasie, die hier eine herausragende Rolle spielt, mag die spärlich bekleideten Damen zu einem reinen Objekt verkommen lassen, doch sind es allesamt starke Charaktere, die er formt. Zwar tritt Hogencamps Alter Ego als deren Anführer auf, was aus ihm in Zeiten des Rufes nach Gleichberechtigung und Kampf gegen Sexismus eine saftige Zielscheibe machen könnte, nur wäre diese Vermutung zu kurz gegriffen und so darf es sein, was es ist: Eine überspitzte, sehr persönliche Fantasie. Es würde dennoch verwundern, würde Willkommen in Marwen von einigen nicht den Stempel sexistisch aufgedrückt bekommen, zu plakativ sind die weiblichen Rundungen in Szene gesetzt, schwappt Milch aus einem schier unendlich gefüllten Bottich, weibliche Brüste benetzend nebst enggeschnürtem Kleid.
So viel Liebe dabei ins Detail gelegt wird, z.B. Gesichter lebensecht zu bemalen, so verwunderlich ist es, wenn einer Kämpferin die Bluse aufgerissen wird, Hogencamp aber offenbar keine Farbe für Brustwarzen übrig hatte. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob dieser Lapsus dem echten Künstler unterlaufen wäre (schätzungsweise nicht), vermuten aber, dass das Thema "öffentliche Zuschaustellung von Brustwarzen" nicht nur für Facebook sondern auch Universal ein erkleckliches Konfliktpotential bietet, dem tunlichst aus dem Weg zu gehen ist. Bedauerlich, selbst wenn sich der Film nicht an dieser Szene schneidet, wo er doch sonst mit zumindest diskutabler Präsentation um sich wirft. So wird Mut bewiesen und zugleich gezeigt, dass man nicht mutig genug ist.
An Carells Seite tragen Darstellerinnen wie Leslie Mann, Gwendoline Christie, Eiza González oder Merritt Wever viel dazu bei, dass sich die Skurrilität in Grenzen hält und eine warmherzige Geschichte über Eigenverantwortlichkeit, Freundschaft und Liebe entspannt. Begrüßenswert ist, dass der Film "Fährten" legt, die aber nicht zum immer erwarteten Ergebnis führen und wie das echte Leben so manchen Abzweig bieten. Ein Film, der Erwartungen aufbricht und die Dokumentation Marwencol aus dem Jahr 2010 in einen berührenden abendfüllenden Spielfilm transformiert, nicht zuletzt Robert Zemeckis (Forrest Gump) sei Dank.
Schlussendlich ist Willkommen in Marwen ein Film, auf den man sich einlassen muss. In einer Zeit, in der Hobbys wie Miniaturbau nicht mehr den Stellenwert von einst haben, wirkt es fast zu bizarr, dass ein erwachsener Mann mit seiner nachgebauten Fantasiewelt derart verschmilzt, die im Film lebt, atmet und interagiert. Manchmal trifft der moralische Holzhammer etwas zu geflissentlich und man merkt dem Film an, dass so mancher nette Ratschlag (für dröge Bullies?) unbedingt wörtlich formuliert werden musste, anstatt ihn per Blick und Bildsprache zu transportieren. Das nimmt dem gut gespielten Drama Tiefe, doch wenn es das braucht, damit weniger Menschen ein ähnliches Schicksal erleiden müssen, dann soll es so sein.