Bewertung: 4 / 5
Die Diagnose ist hart, plötzlich und schlägt eine tiefe Schneise in Lenas Leben: Aufgrund einer nicht behandelten Gehirnentzündung hat sie ihr biographisches Gedächtnis verloren. Sie weiß, dass Paris die Hauptstadt Frankreichs ist, sie weiß, wer die Kanzlerin ist - aber über sich selbst weiß sie nichts. Die Liebe zu ihrem Mann, die Beziehung zu Freunden und Kollegen, die Fähigkeit, Gefühle zuordnen zu können, all das fehlt Lena. Und ihr Mann Tore möchte es ihr wiedergeben. Er geht mit ihr an Orte, die sie liebte und erzählt ihr von all den Dingen, mit denen sie zu tun hatte. Doch Lena kann die Verbindung an die Vergangenheit nicht knüpfen. Sie weiß nicht, wer sie ist. Nur eines ist sicher: Sie wird nie mehr die Lena sein, die sie einmal war.
Vergiss mein Ich, der neue Film von Jan Schomburg lässt dem Zuschauer kaum Zeit, Lena vor der schrecklichen Diagnose kennenzulernen. Mit ihr zusammen wird er mit dem Verlust von Lenas Identität konfrontiert und muss das Puzzle ihrer Persönlichkeit Stück für Stück zusammensetzen. In einer darstellerischen Tour-de-Force verkörpert Maria Schrader diese Frau, die sämtliche Gefühle neu lernen muss und verzweifelt versucht, es allen recht zu machen. Ihre "Gehversuche" entbehren an manchen Stellen nicht einer subtilen Komik, wofür Schomburgs Drehbuch, das viele subtile Unter- und Halbtöne zulässt, immer wieder sorgt.
Trailer zu Vergiss mein Ich
Johannes Krisch ist ebenfalls großartig als Tore, der noch einmal einen anderen Blick auf das Geschehen ermöglicht. Nach und nach offenbart er die Verzweiflung des Ehemanns, der seine Frau wiederhaben möchte und feststellen muss, dass sie ihm entgleitet. So wie die Freunde, die nicht mehr wissen, ob die Frau vor ihnen noch "ihre" Lena ist. Eine fast surreale und traumhafte Stimmung durchzieht viele Szenen - ein zwischen großen Gefühlen und trockener Ernüchterung changierendes, eindringliches Drama über das Vergessen der Identität. Und das Wiederfinden des Ichs.
Die Fragen, die der Film aufwirft, aber weder beantworten kann noch möchte, werden in immer neuen szenischen Konstellationen gestellt: Was bedeutet der Verlust der Biographie für das Überleben in alten familiären und gesellschaftlichen Gegebenheiten, wie kann man sich neu erfinden, wenn die Vergangenheit nicht mehr existiert, und wie können die davon genauso davon betroffenen Mitmenschen damit fertig werden? Ein verstörender Film, dessen Thema Parallelen zu den Dramen um Menschen mit Demenz und Alzheimer aufweist, die ja ähnlich wie Lena Ferben ihre Vergangenheit verlieren, anders aber als Lena keine Chance mehr haben, sich eine neue Biographie und ein anderes Ich zu erfinden.
Prädikat: besonders wertvoll
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung