Bewertung: 5 / 5
Die junge Helen arbeitet zusammen mit ihrer Freundin Bernadette an ihrer Doktorarbeit zum Thema Urbane Legenden, in deren Rahmen sie auf die Geschichte des „Candyman“ stößt. Den Candyman, so die Legende, soll beschwören können, wer vor dem Spiegel fünfmal dessen Namen sagt. Doch wer den Candyman anruft, der zahlt mit dem Leben: mit seiner Hakenhand schneidet er nämlich seine Opfer vom Schritt bis zum Schlund auf. Helen sieht bald ihre große Chance gekommen, denn als sie eines Abends länger arbeitet, erzählt ihr eine Putzfrau, der Candyman sei nicht nur echt, sondern habe auch noch die Plattenbausiedlung Cabrini-Green fest in seiner Hand. Nach einiger Überzeugungsarbeit, Bernadette hat Angst vor dem von Armut und Gangkriminalität geprägten Sozialbau, machen sich die Doktorandinnnen mit einer Kamera bewaffnet auf, um der Legende auf den Grund zu gehen. Doch Helen soll rausfinden, dass man manchen Legenden besser nicht auf den Grund geht...
Basierend auf eine Kurzgeschichte von Clive Barker, mit der der Film jedoch nur ein paar Motive gemein hat, schuf Bernard Rose wahrscheinlich einen der besten Horrorfilme der Neunziger. Wo die Prämisse nach austauschbarer Slashermassenware klingt, hat Rose tatsächlich größeres im Sinn. Aber fangen wir erstmal von vorne an: „Candymans Fluch“ ist so eine Art „Urban Gothic“, der die zerfallenen Bauten des Gothic Horrors durch heruntergekommene Wohnsiedlungen austauscht, aber den Wahnsinn seiner Figuren beibehält. Rose ist dabei mehr an einem Gefühl der Beklemmung und des Unbehagens gelegen, als an dem schnöden Thrill, den man hinter der Prämisse vermuten dürfte.
Roses Herangehensweise hat selbstverständlich System, denn „Candyman“ ist kein bloßer Schocker, sondern vielmehr ein Film über den Ursprung von Folklore und moderner Legenden. Das wird bereits klar, wenn man sich die Figur des Candyman, einer Melange aus diversen Urban Legends wie der Bloody Mary und dem Hakenmann, näher anschaut. Der Candyman ist der rachsüchtige Geist eines gelynchten schwarzen Künstlers, der eine Beziehung zu einer weißen Frau hatte, und dessen Asche man über Cabrini-Green verstreut hatte. Dabei steht der Lynchmord aber nur symbolisch für eine seit Jahrhunderten andauernde Rassentrennung, die sich bis in die 1990er (und darüber hinaus) über rassistische Politik, wie zum Beispiel zoning laws, nachverfolgen lässt. Dies wird in einer recht eindringlichen Szene klargestellt, als Helen Bernadette erklärt, dass ihr, also Helens, Wohnhaus und Cabrini-Green baugleich sind – zwischen ihrem Haus und dem Reichenviertel gibt es, anders als beim durch Highways abgetrennten Cabrini-Green, nur keine natürliche Grenze, weswegen man die Wände neu verputzt hat und nun eine obszön hohe Miete verlangt. Candyman ist der Geist des segregierten Amerikas, der sich immer wieder erheben wird, die urbane Legende nur die Maske, die die wahre Geschichte Amerikas erträglich werden lassen soll.
Eindrucksvoll arbeitet der Film vor allem mit dem Spiegel- bzw. Doppelgängermotiv, das sich auf allen Ebenen der Handlung wiederfinden lässt, ohne jemals aufdringlich zu werden. Das beginnt bei den eben angesprochenen Wohnhäusern, zieht sich über die Affäre von Helens Mann bis zu dem „realen“ Candyman, den der Film cleverer Weise in der ersten Hälfte als wahren Übeltäter entlarvt (Spoileralarm). Gerade an letzterem zeigt Rose seine linksliberale Einstellung, die ihn von vielen anderen, konservativeren Horrorregisseuren unterscheidet, indem er ganz klar systemisches Versagen die Schuld an der Verwahrlosung amerikansicher Innenstädte gibt. Wollte man den Film kritisieren, könnte man ihm vorwerfen, dass er die Trope des White Savior bedient. Jedoch müsste man dann die Frage stellen, wer denn da am Ende errettet sein soll, denn die großen sozialen Probleme sind am Ende nicht gelöst. Der Fluch, auf den der ausnahmsweise ganz passend gewählte deutsche Titel hinweist, hat sich nämlich allenfalls übertragen.
„Candymans Fluch“ ist aber nich gut, weil er einen reichen Subtext hat (denn gerade die letzten Jahre haben gezeigt, dass Subtext nicht alles ist), sondern weil er verdammt creepy ist. Herausragend ist da auf jeden Fall die Sequenz, in der Helen und Bernadette das erste Mal Cabrini-Green aufsuchen. In dieser Sequenz stehen reale und irrationale Ängste in einem andauernden Spannungsverhältnis, das der Film auch nicht aufzulösen vermag. Insoweit dürfte es sich auch um eine der Schlüsselsequenzen des Filmes handeln, da spätestens an dieser Stelle die Trennung zwischen Realität und Wahn aufgeweicht wird. Der restliche Film befasst sich dann mit dem zunehmend entrückten Geisteszustand Helens, ob und wie real der Candyman ist, bleibt (fast) dem Zuschauer überlassen. War Helen von Anfang an die Mörderin? Oder manipuliert der Candyman sie aus dem Reich der Toten? Leider wird der Film häufig allzu wörtlich gelesen, was ihn zu nahe an den damals schon passé gewesenen Slasher rutschen lässt, obwohl seine Grundstimmung wesentlich phantasmogorischer ist. Tatsächlich sollte der Candyman sich erst mit den beiden banalen Fortsetzungen in den Reihen der gesichtslosen Slashermörder wiederfinden. Wobei selbst die Sequels immerhin noch Tony Todds Schauspiel haben, der den Candyman ähnlich verführerisch wie einst Bela Lugosi den Dracula spielt. Auch hier zeigt sich wieder ein Kniff, der „Candymans Fluch“ seiner Konkurrenz einen Schritt voraus sein lässt, indem er sich traut, gegen Ende einfach in Richtung Romanze abzudrehen – ohne dabei den Horrorfaktor zu vernachlässigen. Man möchte den Candyman in der Tradition von Blaxploitationkracher „Blacula“ verankern, der die Beziehung zwischen Helen und Candyman auf gewisse Art bereits vorweggneommen hat, aber „Candyman“ ist dann doch um einige Klassen besser. Dem ähnlich gelagerten „Bram Stokers Dracula“ ist Roses Film übrigens einen Monat zuvorgekommen. Virginia Madsen steht Tony Todd übrigens in keiner Weise nach, tatsächlich trägt ihre Leistung den Film über weite Strecken. Für einige Szenen hat sie sich übrigens hypnotisieren lassen, was ihrem Spiel eine tranceartige Qualität verleiht.
Ob der jüngste Aufguß der Reihe die Figur wieder zu alten Höhen bringen vermag, kann ich derzeit noch nicht beurteilen, da ich den einfach „Candyman“-betitelten Reboot noch nicht gesehen habe. Horrorhoffnung Jordan Peele auf dem Produzentenstuhl lässt aber die Hoffnungen jedenfalls steigen. Fehlen wird dem Film aber leider die fantastische Musik von Philip Glass, deren elegische Stimmung die Bilder optimal untermalt.
Mit „Candymans Fluch“ hat Bernard Rose einen kleinen Kultklassiker geschaffen, der in den letzten Jahren eine wohlverdiente Renaissance erfahren hat und der jedem als Beweis dienen sollte, dass Horror nicht „elevated“ sein muss, um tiefgreifende Wahrheiten aufzudecken.