Bewertung: 4.5 / 5
Netflix gelingt mit der Serie "Eine Reihe betrüblicher Ereignisse" etwas, das den wenigsten Buchreihenverfilmungen gelingt: Es wird akurat und genau in der richtigen Dosierung ein kleines Popkulturphänomen erzählt und auf dem Höhepunkt der Erzählung auch endet.
Bereits einmal wurde der Versuch unternommen, die Buch-Reihe zu verfilmen, damals mit Jim Carrey und Merril Streep, doch jene Verfilmung bekam zwar wohlwollende Rückmeldung, doch kam der Film zu einem Zeitpunkt heraus, als Carreys Stern zu sinken begann, so dass dies den Film überlagerte.
Trailer zu Eine Reihe betrüblicher Ereignisse
Nun ein gutes Jahrzehnt später übernahm Neil Patrick Harris die auf den ersten Blick undankbare Rolle, Jim Carrey vergessen zu machen, doch auf den zweiten Blick erweist sich sein Casting als absoluter Glücksgriff. Frisch aus dem Erfolg von How I Met Your Mother kommend erleben wir einen extrem spielwütigen Harris, der quasi als monströse Urgewalt Jagd auf die drei Protagonisten macht. Wer diese Serie gesehen hat, wird sich gar nicht mehr an Jim Carreys Film erinnern.
Eine Reihe betrüblicher Ereignisse erzählt die Geschichte dreier Geschwister, deren Eltern in einem Brand umgekommen sind und bei einem vermeintlichen Onkel als Vormund untergebracht werden. Dieser stellt sich jedoch als ein Schmierendarsteller heraus, der mit einigen Lakaien nur darauf aus ist, an das Vermögen der Kinder zu kommen und die Kinder danach umzubringen. Erzählt wird diese Geschichte von einem Ich-Erzähler namens Lemony Snicket, der mit zunehmender Dauer der Serie anscheinend eine deutlich tiefere Beziehung zu den Kindern zu haben scheint als wir anfangs ahnten.
Tatsächlich muss man Netflix zu Gute halten, dass sie ertsens die Serie in drei Staffeln unterteilt haben (dazu gleich mehr) und dass sie die Serie auch nur drei Staffeln lang gedreht haben, also sie nicht über die Massen gemolken haben. Tatsächlich haben sie sich darauf begnügt, pro Buch zwei Folgen zu verwenden, so dass die Bücher recht schnell abgehandelt werden können. Dabei achten die Macher darauf, dass einerseits mit viel Liebe zum Detail erzählt wird, es aber nie zu detailliert zu einer reinen Literaturverfilmung verkommt. Das darf auch nicht passieren, da es sich hierbei um eine auf dem Papier Kinderserie handelt.
Die Inszenierung ist sehr eigen und die Bildsprache irgendwo zwischen der Addams Familie, Wes Andersons Welten gepaart mit Dr Seuss Welten angesiedelt, so dass alles eine spleenige verspielte Bild- und Wortsprache hat, wo sowohl viel erklärt aber auch gleichzeitig die eigene Intelligenz zelebriert wird. Das mag mitunter etwas anstrengend wirken, aber dranbleiben lohnt sich.
Zur Struktur der Serie: Die Teilung der Gesamtgeschichte in drei Staffeln mag auf den ersten Blick wie eine willkürliche Teilung wirken, damit man die Anzahl der Bücher auf drei Staffeln aufteilen kann, aber es ist so viel mehr:
Hier jetzt evtl. ein kurzes Spoilerterritorium:
Die erste Staffel bringt uns den drei Geschwistern näher und ihren Widersacher. Es wird recht einfach eine sich quasi wiederholende Geschichte immer mit unterschiedlichen Settings präsentiert, so dass wir in gewisser Weise auch irgendwann in falsche Sicherheit gewogen werden.
Die zweite Staffel zeigt uns nunmehr auf, dass die ganzen Abenteuer, die diese Kinder erleben, auch ihren Tribut fordern. Die einstmals unschuldigen Kinder werden nun immer stärker korrumpiert, müssen unangenehme Entscheidungen treffen, und auch beim Bösewicht werden erste Risse deutlich, so dass auf beiden Seiten immer stärker Grautöne dominieren anstatt schwarz und weiß.
Die dritte Staffel schließlich löst alle wichtigen Fragen auf, dabei wird ganz klar deutlich, dass es in dieser Welt nie nur Gute und Böse gibt, sondern das selbst aus den besten Absichten heraus Fatales entstehen kann, und wer die Hintergrundgeschichte dann schließlich kennt und den Ausgang, dem bleibt erst Mal ob der bitterbösen aber in sich stimmigen Konsequenz der Erzählung erstmal die Kinnlade eine Weile offen.
Die Serie wird sehr stark von den Kinderdarstellern und der phänomenalen Erzählung getragen, und selbst der Erzähler Lemony Snicket nimmt eine immer dramatischere Rolle, so dass er fast zu dem heimlichen Star der Serie wird. Doch der öffentliche Star ist auch der tatsächliche Star der Serie: So wie Harris den schmierigen Bösewicht mimt, der aber zugleich eine tragische Hintergrundgeschichte hat, und der trotz aller Monstrositäten so immer noch menschlich bleibt, das ist ganz große Kunst.
ABER: Und dies ist ein extrem großes ABER:
Jeder der jetzt gedankenversunken diese Serie seinen Kindern vorlegen will, sollte mal kurz inne halten. Spätestens in der zweiten Staffel in einer Anstalt werden Grenzen zum Horror- und Gruselgenre durchaus auch mal sehr derbe überschritten, und ich fragte mich mehr als nur einmal, wie so ein Stoff als Kinderserie durchgehen kann. Ich persönlich fand das schon deutlich verstörender als so manche Gruselperle (für die Leser, die sich nur an die aktuellen Sachen erinnern: ES oder Haunting of Hill House waren beispielsweise deutlich weniger gruselnd als diese Serie). Und wie dann mit welcher Konsequenz weiter verfahren wird ist schon der absolute Hammer.
Aber nicht nur der psychologische und physische Gewaltgrad, auch die Botschaft, die am Ende heraus kommt, ist schon, wenn auch durchaus stichhaltig, für ein Kinderprodukt, als was er ja beworben wird, sehr eigen. Wenn am Ende in der vorletzten Folge eine Konsequenz an den Tag gelegt wird, die es in sich hat, mit einer Nachricht, die ihresgleichen in diesem Genre sucht, so sind wir eigentlich schon am Ende angekommen, auch mit unserem Latein.
Inszenatorisch, darstellerisch und inhaltlich befinden wir uns hier auf absolutem Top-Niveau, und diese Serie hat es eigentlich verdient - auch durch die zeitlose Inszenieung - später einmal als ein Klassiker der Literaturverfilmung angesehen werden zu können. Neben Harry Potter und der Panem Reihe derzeit wohl das Mass der Dinge in Sachen Young-Adult-Literaturverfilmung. In meinen Augen sogar deutlich drüber.
Wie gesagt mit etlichen Einschränkungen ;-)
9 Punkte!
P.S.: Ach ja, wenn Herman Melville dann auch noch über den Klee gelobt wird, dann darf Moby Dick ja nichts schlechtes über das vorliegende Produkt von sich geben ;-)