Bewertung: 5 / 5
Ein bisschen trostlos wirkt die Wohnung, ein wenig zu grau und altmodisch. Aber eigentlich ist hier alles normal. Bis auf die blaue Kellertür, die mit Schaumstoff verkleidet ist. Dahinter ist ein zehnjähriger Jungen eingesperrt. Regisseur Markus Schleinzer mutet dem Publikum mit seinem phänomenalen Film Michael eine Menge zu: Der Österreicher schildert das Leben eines Kinderschänders als konsequent nüchterne Beobachtung aus der Täterperspektive.
In Michaels (Michael Fuith) Alltagsroutinen steckt der Wunsch nach Normalität und Zuneigung. Er deckt den Tisch, nimmt das Abendbrot gemeinsam mit seinem Opfer ein, macht sogar Ausflüge mit dem zehnjährigen Wolfgang (David Rauchenberger) und kauft Weihnachtsgeschenke. Markus Schleinzer zeigt das alles in einer schmerzhaften Beiläufigkeit, der Regisseur entschuldigt nichts, er dämonisiert nichts. Er beobachtet einfach die Täter-Opfer-Beziehung: Michaels Manipulationen und Wolfgangs Überlebensstrategien.
Michael ist ein klug aufgebauter, sehr sachlicher und höchst kontroverser Film. Schleinzer zeigt einen fast normal scheinenden Alltag - nur dass der "Vater" den "Sohn" einsperrt, ihn wie ein Tamagotchi behandelt: Er will Zuneigung auf Knopfdruck, belohnt und bestraft nach Laune und Gutdünken. Und wenn der biedere Versicherungsangestellte mit den Kollegen ein Ski-Wochenende verbringt, dann wird einfach der Vorratsschrank im Kellerloch aufgefüllt und eine Zeitschaltuhr für Licht und Fernsehen aktiviert.
Einen Kinderschänder im Kino zu zeigen, ist heikel, ein Risiko. Aber Markus Schleinzer und seine fantastischen Hauptdarsteller gehen mit dem Thema sensibel um. Schleinzer ist ein nüchterner Beobachter, Michael Fuith und David Rauchenberger geben ihren Figuren eine zurückhaltende, aber erdrückende Intensität. Ihr Film ist die bittere Schilderung einer bösartigen Wirklichkeit: Einmal, beim Abendbrot, fragt Michael den Jungen: "Ich habe hier ein Messer und meinen Schwanz. Was soll ich in Dich reinstecken?" Der Junge wünscht sich das Messer.
Schlimmer als die beklemmenden Bilder, die Schleinzer zeigt, sind die Bilder, die er nicht zeigt. Es ist gnadenlos, wie Schleinzer auf jegliche Sensationslust verzichtet. Der Täter hat keine Moral - er wird aber auch nicht zum BILD-Zeitungsmonster. Er ist einfach Michael. Diese Nüchternheit ist es, die den Film zu einem Ereignis macht. Auch wenn sich der Brechreiz im Kinosaal nur schwer unterdrücken lässt. Man weiß, das in den fünf Monaten, die Michael akribisch und kühl beschreibt, mehr passiert, als man sieht. Und es ist grauenhaft zu sehen, dass so etwas unbemerkt passiert. In Michaels Umfeld, in seiner Familie ahnt niemand etwas. Fritzl, Natascha Kampusch - solche Fälle kann es überall geben.
Michael bekommt 5 von 5 Hüten.
(Quelle: teleschau - der mediendienst | Andreas Fischer)