Bewertung: 4 / 5
Vorab: Der Film ist nicht zu abwegig finde ich. Hatte im Vorfeld gelesen, dass er sicher nicht der breiten Masse der Horrorfans gefallen wird, aber da sehe ich eigentlich kaum Probleme. Er ist wesentlich „klassischer“ aufgebaut als beispielsweise „The Witch“ mit dem ich nur stellenweise warm wurde. The Wicker Man kenne ich noch nicht. Und von „Hereditary“ war ich insgesamt enttäuscht, da mich eigentlich keine Stelle wirklich aufgerüttelt oder verblüfft hat (höchstens noch die Auflösung, aber auch die konnte man dank den Aufzeichnungen teilweise ahnen). Könnte sein, dass mir das Gezeigte einfach zu wenig realistisch war. Erstaunlich eigentlich, denn bei bösen Geistern oder Flüchen bin ich im Allgemeinen unkritisch. Vielleicht wegen dem Ende? Denn die Austreibung fand ich zum Beispiel auch bei Conjuring viel weniger spannend als andere Teile des Films. Wie dem auch sei, dieses Problem ist in Midsommar keines, da sie ihre Thesen nicht beweisen müssen.
Zum Inhalt: Ein nicht allzu glückliches Pärchen (das Mädchen ist stark traumatisiert, was vieles von dem, was später passiert, begünstigt) und einige Kumpels werden von einem der Freunde nach Schweden eingeladen um mit seiner Familie/dem Heimatdorf die Sommersonnenwende zu feiern. Ein idyllisches, abgelegenes Fleckchen und eine herzliche Begrüßung warten. Bis die Dinge Nuance um Nuance seltsamer werden...
Trailer zu Midsommar
Kritik: Einen Teil der Handlung ahnt der Zuschauer und soll ihn wohl auch ahnen. Denn genau das ist der Trick (in Kombination mit der hinterlistigen Kameraführung, Regie: Ari Aster): Als erfahrener Horrorfan weiß man normalerweise, wann man besser wegsieht oder man fällt höchstens auf das erste Schockbild herein – bei Midsommar denkt man, es ist zu Ende und schaut wieder hin, dabei ist erst der zweite oder dritte Eindruck bzw. Teil der Szene der gräßlichste. Oder man rechnet nicht so schnell mit einer so drastischen Einblendung (schließe mich der Warnung von moviejones an: Vor allem nach den Sprüngen wegsehen, am besten schon vorher oder nur durch die Finger gucken, ebenso bei ihrem ersten Traum und am Schluss, aber da weiß man wenigstens, ab wann).
Das sich durch den ersten Teil des Films ziehende Pendeln zwischen Schockszenen, nachgelieferten und wenigstens etwas beruhigenden Erklärungen und neuem Misstrauen bis Entsetzen hat mich sehr bei der Stange gehalten. Dazu kommt, dass durch die ersten Minuten, die noch in den USA spielen, kein Zweifel daran gelassen wird, dass hier alles Böse möglich ist. Erst dachte ich, man ist bereits am Anfang des Films in Schweden wegen den kalten, düsteren Farben, die in den nordischen Krimis so gerne verwendet werden. Ist man aber nicht, wieder eine Täuschung. Und einer der Effekte ist, dass der Zuschauer quasi mit den Figuren geradezu aufatmet angesichts der blühenden Wiesen und der sommerlichen Atmosphäre in den kommenden Szenen - natürlich mit dem Hintergedanken, dass es so nicht bleiben wird.
Aber fast der gesamte Film spielt bei schönem Wetter und am Tag, was einen interessanten Kontrast bildet.
Die Schauspieler sind tadellos, allen voran die eindeutige Hauptdarstellerin Florence Pugh (der Name passt auch noch fällt mir grad auf). Und endlich wird eine Szene nach einem erschütternden Verlust - wie ich denke - realistisch dargestellt und der Ermittler fragt nicht dämlich, ob alles in Ordnung ist und er ein Glas Wasser bringen soll.
Über die Charaktere der anderen Studienkollegen erfahren die Zuschauer wenig und was man von ihnen sieht führt dazu, dass man allen nicht voll traut. Später werden zwei der Figuren zwar sympathischer fand ich, dafür kommen bei einer anderen immer mehr Schattenseiten ans Licht (Stichwort Diplomarbeit). Dass die Jungs ingesamt so „unausgeleuchtet“ bleiben, könnte gewollt sein, denn so kann man sie als Zuschauer auch nicht einschätzen. Ebensowenig kennen sich die anscheinend langjährigen Freunde (sie stehen immerhin kurz vor ihrer Abschlussarbeit) untereinander (vielleicht ein kleiner Schwachpunkt der Erzählung oder wieder ein Kniff) und vertrauen sich nicht, wodurch die Pläne der Dorfbevölkerung erleichtert werden. Auf nichts ist Verlass in diesem Film, weder auf die Beziehung noch auf die Gruppe (im Kontrast zu den Survival-Filmen, in denen die Geschwister, Paare oder Freunde aufeinander aufpassen oder es zumindest versuchen) noch auf die Freundlichkeit der neuen Bekanntschaften. Und mehr will ich nicht verraten bzw. könnte es auch gar nicht, denn dafür ist der Film zu vielschichtig und jedenfalls für mich nicht komplett greifbar/einordnebar (hab mittlerweile auch die beeindruckende Kritik von GierigeEnte gelesen samt Interpretationen). Höchstens noch, dass ich mit der Hauptfigur durchaus mitgefühlt habe. Ebenso ist ihre Suche nach irgendeinem Halt völlig plausibel, was aber die normalen Instinkte teilweise ausschaltet. Ich meine damit: Zwei der Jungs wollen wegen ihrer Abschlussarbeiten sowieso länger bleiben, aber wenn Dani vehement darauf bestanden hätte, die Sekte zu verlassen, hätten sie es eventuell geschafft, zusammen zu fliehen (auch wenn die Einheimischen sehr findig waren). Aber da Dani sowieso keinen anderen Ort hat, an dem sie zu Hause ist oder sich erwünscht fühlen kann, kommt kein gemeinsamer Beschluss zustande (sie sind tatsächlich gut ausgewählt worden von Pelle). Abgesehen davon können die Studienkollegen nach dem ersten Schocktag immer noch davon ausgehen, dass sie das Ganze nichts angeht.
Fazit: Es gab ein paar kleinere Abschnitte, wo ich fand, dass sich der Film zu sehr gezogen hat, aber insgesamt wollte ich - obwohl zu später Stunde begonnen - unbedingt auch das Ende sehen. Dass er 2 ½ Stunden ging, weiß ich nur, weil ich anschließend hier mitgelesen habe ^^, hätte es also nicht gemerkt, so gefesselt war ich.
Midsommar ist zwar, wie oben erwähnt, kein richtig abwegiger Horrorfilm, aber sicher auch kein 08/15-Das Monster verfolgt mich durch den Wald-Reißer. Er geht unter die Haut, ist stellenweise echt grauenvoll, aber auch spannend und man wird sich einige Szenen merken (müssen). Ein zweites Mal werde ich ihn mir nicht ansehen, denn er hat schon gestern ganze Arbeit geleistet.
4/5 Hüte (eigentlich müsste ich noch höher gehen, aber dafür ist der Film einfach zu „schlimm“).
PS: Ich war schon bei größtenteils Sonne in Schweden und es hat mir gut gefallen (besonders schön sind die klaren Seen) – nur ging es mir so (obwohl ich mit der Familie da war), dass ich nach einer gewissen Zeit ganz froh war, wieder in eine Stadt zu kommen mit mehr Menschen...
Und ich musste an das Midsommar-Fest bei IKEA denken und ob sich in Zukunft so mancher Gast nur ganz vorsichtig außen auf die Bänke setzt?