Bewertung: 4 / 5
Brendan Fraser gewann den Oscar als bester Hauptdarsteller und The Whale für das beste Make-up bei der Verleihung in diesem Jahr. Absolut verdient. Denn Darren Aronofskys Kammerspiel über einen fettleibigen, einsamen Mann geht ans Herz und versucht, auf so vielen Ebenen zu packen, dass für jede:n Zuschauer:in etwas in den 117 Minuten dabei ist. Und das ist auch das kleine Manko des Films.
The Whale Kritik
Charlie (Fraser) konnte nie den Tod seines Partners verwinden. Die Trauer führte dazu, dass der Zeit seines Lebens übergewichtige Mann, mit den Jahren derart zugenommen hat, dass ihm der Alltag eine einzige Qual ist. In Onlinekursen verheimlicht der Englischlehrer sein Aussehen vor seinen Studenten und trotz gravierender gesundheitlicher Probleme weigert er sich gegenüber seiner einzigen Freundin Liz (Hong Chau, The Menu), medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Denn Charlies verwundete Seele hat auch mit seiner Tochter Ellie (Sadie Sink, Stranger Things) zu tun, die er einst verließ, und die keinen Hehl aus ihrer Abscheu vor ihrem Vater macht...
Trailer zu The Whale
Es gab einige Freunde, die meinten, sie könnten sich einen Film wie The Whale nicht im Kino ansehen. Nicht, weil er abstoßend sei, sondern viel zu traurig und es schwierig sei, solche Filme im Kino ohne Tränen sehen. Etwas, was wir verstehen können, besonders nach dem Kinoabend. Aber dennoch können wir Entwarnung geben, denn Darren Aronofskys Film über einen schwer adipösen Mann ist einfach sehr gut geschauspielert und bietet viel Zeit zum Nachdenken auf vielen Ebenen, sodass sich ein Kinobesuch wirklich lohnt.
Unbestritten liefert Brendan Fraser hier eine starke schauspielerische Leistung ab. Der Schauspieler, einst als der gutaussehende, gutgelaunte Sonnyboy aus leichter Unterhaltung bekannt, verschwand vor knapp 20 Jahren vom Radar, der mit privaten Problemen zu kämpfen hatte und später auch eine sexuelle Belästigung öffentlich bekannt gab. Zwischenzeitlich gab es Momente, in denen sich Promijournale und Hater in sozialen Medien, nie um eine emotionale Breitseite gegen Mitmenschen verlegen, an seiner körperlichen Veränderung ergötzten, seinem Verfall vom Beau zum Typ mittleren Alters mit schütterem Haar. Umso erfreulicher ist es, den 54-Jährigen derart imposant zurückkehren zu sehen, was zeigt, dass man niemanden frühzeitig abschreiben sollte.
Um die Rolle authentisch spielen zu können, trägt der Schauspieler im Film einen Fatsuit und arbeitete im Vorfeld des Drehs eng mit der Obesity Action Coalition (OAC) zusammen. Des Weiteren suchte er das Gespräch mit Menschen, die sich einer gewichtsreduzierenden Operation unterzogen hatten. Der Oscar für das Make-up ist verdient, denn Fraser Auftreten und insbesondere seine Mimik wirken den ganzen Film über sehr natürlich und überzeugen auf ganzer Linie. Doch wie sollte es anders sein, sahen sich die Filmemacher mit Kritik konfrontiert, weil ein offensichtlich nicht stark adipöser Schauspieler einen Fatsuit tragen muss, um eine beeinträchtige Person zu spielen.
An dieser Stelle darf und muss man fragen, was die Alternative gewesen wäre.
Möchte ich persönlichen Schicksale folgen, schaue ich eine Biographie oder Dokumentation. Bei The Whale handelt es sich um die Adaption eines Theaterstücks von Samuel D. Hunter, eine fiktionale Erzählung, die sehr wohl auf fiktive Personen zurückgreifen darf. Gegenfrage: Wie viele, wirklich fettleibige Schauspieler über 250 kg, gibt es, die die Rolle hätten spielen können? Wohlgemerkt, sich den Strapazen eines Drehs aussetzen können? Oder wäre es "realistischer" gewesen, Brendan Fraser zu bitten, dass sich zu seinem Hüftgold noch ein paar Kilos gesellen, damit es ganz und gar authentisch wirkt?
Anstatt Aronofsky und das ganze Team zu loben, dass marginalisierte, von der Gesellschaft verspottete Menschen ohne auf sie herabzublicken in den Mittelpunkt gestellt werden, mit all ihren Eigenheiten, Stärken und eben auch Fehlern, wird das Filmteam angegangen, wie man es denn wagen kann, eine Geschichte um eine fiktive Person nach eigenem Ermessen umzusetzen. So wichtig es ist, diverse Möglichkeiten zu schaffen, ist das reflexhafte Anklagen, dass Schauspieler:innen in eine Rolle schlüpfen, die nicht ihrer natürlichen Apparenz entspricht, eine überaus unsachliche Diskussion. Nicht nur das Aussehen spielt eine Rolle, auch das Können, die Gestik, Mimik, persönliche Nuancen wie Stimmlage oder - ganz banal - persönliche Entscheidungen und Präferenzen der Castingabteilung und Regisseur:innen, die eine Vision vor Augen haben und realisieren wollen. Dramatiker Hunter, selbst nicht fettleibig, wird auch nicht vorgeworfen, ein Theaterstück über einen Dicken geschrieben zu haben...
Wenn man diesem stillen, sehr persönlichen Film etwas vorwerfen kann, dann dass er etwas zu viel: Der einsame Fette, der Selbstmord seines Partners, die zerrüttete Familie, rebellische, distanzierte Tochter, alles garniert mit dem Auftreten eines Missionars... Die einzelnen Stränge sind ohne Frage gut miteinander verwoben und erklären, warum Charlie sich diesen Schutz aus Fett angefressen hat, aber es entzieht dem Film in gewisser Weise auch Kraft durch den nachlassenden Fokus. Insbesondere, weil Tochter Ellie ihre Enttäuschung nicht nur mit Ablehnung zeigt, sondern unfassbar verletzend und provokant auftritt. Man möchte sie verstehen, spürt ihren Schmerz von einst, aber Sadie Sink schießt für unseren Geschmack etwas zu sehr übers Ziel hinaus.
The Whale ist ein warmherziger Film, vielschichtig und ehrlich, der in uns allen etwas zum Klingen bringt, wenn wir uns darauf einlassen. Sei du selbst - selten wurde diese Wahrheit so berührend verpackt. Aber selten war sie auch so schwer zu ertragen und erkennbar schwer zu realisieren wie von Charlie, dem Wal.
Wiederschauwert: 70 %