Bewertung: 5 / 5
Eine Diskussion darüber, was einen Antikriegsfilm genau konstituiert, brachte mich dazu, den in meinen Augen ultimativen Vertreter mit einer Kritik zu würdigen, den sowjetischen "Komm und sieh" von 1985.
Zunächst einmal eine kurze Titelklärung: Der Film ist in Deutschland sowohl als "Komm und sieh" als auch als "Geh und sieh" bekannt, was den einfachen Grund hat, dass die BRD und die DDR den Filmtitel damals jeweils unterschiedlich übersetzt haben. Ich nutze stets den Titel "Komm und sieh", weil dies die sinnhaft richtige Übertragung ist. Zwar ist der DDR-Titel die wörtlich korrekte Übersetzung, allerdings nimmt die Werkbezeichnung im Original Bezug auf eine wiederkehrende Zeile in der Offenbarung des Johannes, deren deutsche Übersetzung ich auch als Überschrift für diese Kritik gewählt habe, demnach ist die wörtliche Übersetzung in diesem Fall eben nur die zweitbeste.
Als nächstes müsste ich bei einer Kritik zu einem gewöhnlichen Spielfilm nun eine Spoilerwarnung voranstellen, da ich im Folgenden auf einige Szenen im Detail und sogar auf das Ende eingehe. Allerdings kann einen nichts, was man im Vorfeld über diesen Film hört oder liest, auf die Grenzerfahrung vorbereiten, die die Erstsichtung dieses Werks auslöst, daher spielen Spoiler im Grunde keine Rolle, denn in "Komm und sieh" geht es gar nicht darum, was erzählt wird (denn thematisch haben auch andere Filme sich mit sehr ähnlichen Gräueln beschäftigt), sondern wie das geschieht.
Zunächst einmal verzichtet Regisseur und Co-Autor Elem Klimov auf eine konventionelle Dramaturgie und somit auf das, woran die meisten anderen Versuche bereits scheitern. Befreit man sie von ihrem Setting in einem spezifischen Krieg, funktioniert die Mehrzahl der Kriegsfilme wie handelsübliche Thriller, bei denen das Publikum mit den Protagonisten mitfiebert, dass sie ihre Tortur überleben mögen. "Komm und sieh" funktioniert dagegen nicht nach gängigen Spielfilmregeln, hier gibt es keine Spannungserzeugung im klassischen Sinne, stattdessen wirkt alles, was passiert, unausweichlich und bricht einfach in den Film herein, während der Zuschauer in diesen Abwärtssog mit hineingezogen wird. So wie der Krieg keine logische Struktur hat, muss konsequenterweise auch dessen Visualisierung darauf verzichten.
Dabei ist der Anfang noch vergleichsweise gut konsumierbar. Der junge Fljora wird irgendwo in den weißrussischen Wäldern zum Partisanenkrieg eingezogen und ist zunächst Feuer und Flamme, die deutschen Besatzer zu bekämpfen. Der folgende Lageralltag gaukelt dem Zuschauer noch konventionelle Pfade vor, die der Film aber spätestens mit der Begegnung Fljoras mit der jungen Glasha verlässt. Es folgt eine surreale, in ihrer Schönheit atemberaubende Szene des Glücks, die von einem Fallschirmjägerangriff jäh unterbrochen wird.
Ab diesem Zeitpunkt beginnt eine Reise ins Herz der Finsternis, die bis zur letzten Einstellung einer kathartischen Montage, in der das Leben einer für die Handlung wichtigen Person mit nachdrücklichem Effekt rückwärts erzählt wird, andauern wird. Surrealistische Einschübe ziehen sich auch in der Folge durch den Film, kippen dann aber stets ins Albtraumhafte und bieten somit keine Entlastung, sondern verstärken nur noch die verstörende Wirkung des Gesehenen.
Einige Bilder brennen sich für immer ins Gedächtnis ein, etwa wenn ein im toten Winkel des Protagonisten verborgener Leichenberg mit niederschmetterndem Effekt für den Zuschauer kurzzeitig ins Bild gesetzt wird, eine Holzkirche in Flammen aufgeht und nicht zuletzt die Großaufnahme des von den Schrecken gezeichneten Gesichts von Fljora, dessen Leidensweg der zum Zeitpunkt der Dreharbeiten erst 14 Jahre alte Alexei Kravchenko mit seiner unglaublichen Darbietung regelrecht körperlich spürbar macht.
In Bezug auf die Inszenierung muss das markerschütternde Sounddesign hervorgehoben werden, das vor allem im Schlussteil in eine konstant dröhnende Kakophonie übergeht, so dass es wohl nicht einmal helfen würde, die Augen vor den Schreckensbildern zu verschließen, da die enervierende Tonspur allein schon eine entsetzliche Wirkung erzielt. Wie für die Protagonisten gibt es auch für den Zuschauer kein Entrinnen. Dafür sorgen auch die Kameraeinstellungen, die zumeist nah am Geschehen bleiben und mit vielen Close-ups auf die Gesichter Immersion erzeugen.
Bei vermeintlichen Antikriegsfilmen werden gerne die Todesopfer unter den Hauptfiguren oder die Tatsache, dass es für die Protagonisten in einer Niederlage endet, ins Feld geführt, um daraus eine Antikriegsbotschaft zu destillieren. Auch hier zeigt Klimovs Werk meisterhaft auf, wie kurz das Denken in solchen Kategorien greift, denn oberflächlich betrachtet hat "Komm und sieh" sogar ein Happy End: Der Protagonist hat überlebt, er gehört der Siegerseite an und die Bösen haben sogar ihre gerechte Strafe bekommen. Dennoch gibt es keinen Zweifel daran, dass Fljora kein Sieger ist. Nicht nur, weil er am Ende dank der herausragenden Maske gegenüber dem Filmanfang um 20 Jahre gealtert aussieht, wissen wir genau, dass der Krieg das Leben dieses Heranwachsenden nachhaltig zerstört hat, bevor es so richtig begonnen hatte und dafür spielt es überhaupt keine Rolle, auf welcher Seite er gekämpft hat.
Der Film endet mit dem Lacrimosa aus Mozarts Requiem, das hier natürlich programmatisch passt, daneben vielleicht aber auch den einzigen Hoffnungsschimmer in 140 Minuten bieten soll: Nachdem man mit anschauen musste, wozu die Menschheit in ihrem Schlechtesten fähig ist, wird man mit einem der schönsten Werke, die sie hervorgebracht hat, aus dem Film entlassen (wobei der Terminus "entlassen" hier nicht ganz passt, denn dass irgendjemand das Gesehene direkt vergessen könnte, scheint schwer vorstellbar, der Film begleitet einen noch lange nach dem Abspann). Erhabene Kunstwerke wie das Requiem, oder auch "Komm und sieh", machen Hoffnung, dass die Menschheit vielleicht ja doch eine Chance verdient hat.
Einige User geben in ihren Kritiken neben der Wertung immer auch den Wiederschauwert des jeweiligen Films an. Bei "Komm und sieh" dürfte der Wiederschauwert von den meisten, die ihn sahen, mit "niemals wieder" angegeben werden. Und dennoch verdient dieses Meisterwerk nichts anderes als die Höchstwertung.