Bewertung: 4.5 / 5
Wer sich Kritiken zu "The Fall" durchliest, wird schnell feststellen, dass es sich hier um einen jener Filme handelt, welcher die Mengen in zwei Lager zu spalten weiß. Die Einen bezeichnen das Werk als hohl, kalt, herzlos und Style over Substance. Die Anderen, zu denen ich mich zähle, empfinden "The Fall" als überwältigendes und emotionales Fantasydrama, indem Form und Inhalt miteinander interagieren.
Vom Trailer könnt ihr euch die erste Minute ansehen, danach folgen leider Spoiler:
Los Angeles, 1915. Der als Stuntdouble arbeitende Roy Walker (Lee "Thranduil" Pace) hat sich bei seinem ersten Film schwer verletzt, liegt im Krankenhaus und hat Angst davor, seine Beine nie wieder benutzen zu können. Obendrein hat ihn seine Freundin ausgerechnet für den Schauspieler verlassen, für den er als Double arbeitet. Im Krankenhaus trifft er das fünfjährige Mädchen Alexandria, welches sich den Arm gebrochen hat. Sie lernen sich kennen und irgendwann beginnt Roy, Alexandria eine Fantasygeschichte zu erzählen, in der Personen aus ihrem Umfeld in anderer Gestalt auftreten.
Auf der einen Seite steht die reale Erzählebene im Krankenhausbett, auf der anderen Seite die fiktive Erzählebene in der Geschichte. Tarsem Singh verwebt diese beiden Erzählebenen nicht nur, indem er sie einfach gegenüberstellt. Stattdessen lässt er sie sich gegenseitig beeinflussen und sich gegenseitig unterbrechen, so wie es im realen Leben Fall ist, wenn Eltern ihren Kindern ein Buch vorlesen oder eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen. Das Geschichten Erzählen ist ein interaktiver Prozess, die geschriebenen oder vorgelesenen Worte nehmen erst im Kopf dank der eigenen Imagination Gestalt an, was Singh hier eindrucksvoll auf Film bannt. Zu Beginn mag das alles noch witzig sein, wenn die Charaktere mit der Zeit allerdings näher beleuchtet und verschiedene Motive klar werden, entfaltet sich der interaktive Prozess zu einem ausgewachsenen und mitreißenden Drama.
Tarsem Singhs Bilder verfügen über eine unglaubliche Strahlkraft und entwickeln sich wie der interaktive Prozess parallel zum Handlungsverlauf weiter. Zunächst wirken sie mehr wie eine unepische und fantasielose Cosplay-Party, was meiner Meinung nach aber überraschend gut funktioniert. Singh erlaubt sich damit einen großartigen Scherz und inszeniert die Fantasygeschichte aus ganz nüchterner Betrachtungsweise als das, was sie eigentlich ist. Ein Kerl erfindet eine haarsträubende und trashige Geschichte über ein paar Leute in lustigen Kostümen, die nicht wirklich zueinander passen, und erzählt dies einem kleinen Mädchen. Dennoch gilt wie oben auch hier: Mit voranschreitender Charakterzeichnung entwickelten sich die Bilder in meinem Kopf zu der atmosphärischen und epischen Fantasygeschichte, so wie es von Roy angedacht war. Meine Wahrnehmung verschob sich also, genauso wie es beim Geschichten Erzählen der Fall ist. Aus Worten - als schwarz auf weißem Papier zunächst leblos erscheinend - entsteht dank der eigenen Imagination eine greifbare und lebendige Welt.
Neben den Bildern wird der Film von dem Schauspielduo, bestehend aus Lee Pace und der sechsjährigen Catinca Untaru, getragen und für das Zusammenspiel der beiden hat sich Singh etwas Besonderes einfallen lassen. So lag Pace während des Krankenhausdrehs zum Großteil im Bett, weswegen die meisten Crewmitglieder - darunter auch Catinca Untaru - dachten, er könne tatsächlich nicht laufen. Darüberhinaus ließ Singh das Mädchen sehr oft improvisieren, sodass die meisten ihrer Interaktionen mit Pace spontan entstanden (wie z.B. das Verwechseln des E in "morphine" mit einer 3). Um diese Interaktionen noch realistischer zu gestalten, filmte Singh oft nur durch kleine Löcher im Vorhang, damit Pace und Untaru von der Anwesenheit der Kameras nicht gestört wurden. Auch ohne all dies zu wissen, merkt man dem Film an, wie gut Lee Pace und Catinca Untaru miteinander harmonieren. Diese Harmonie ist ein Grund, warum mich "The Fall" gegen Ende so mitgenommen hat.