Bewertung: 4.5 / 5
"Es ist vorbei. Sie sind alle weg. Frank, es ist Zeit, dass Du sagst, was passiert ist."
Der legendäre Regisseur Martin Scorsese, aus dessen Feder fast fehlerfreie Filme wie "Departed - Unter Feinden" und "Shutter Island" stammen, hat im vergangenen Jahr viel geleistet: Begonnen mit seiner dringend benötigten Kritik an den immergleichen MCU-Filmen ("I tried, you know? But that’s not cinema. Honestly, the closest I can think of them, as well made as they are, with actors doing the best they can under the circumstances, is theme parks."), über seinen fortschrittlichen Entschluss, mit Netflix zu kooperieren, bis hin zu seinem neuen Film "The Irishman", der einer der besten des letzten Jahres ist. Denn selbiger ist nicht nur zweifellos ein Meisterwerk, nicht nur ein abschließendes, ausgezeichnetes Aufbäumen eines schwindenden Genres, sondern auch eine Rückbesinnung auf virtuose Filmkunst, wie sie im Buche steht.
Trailer zu The Irishman
Der im Altersheim lebende Frank Sheeran (Robert DeNiro) hat eine steile Karriere hinter sich: Er stieg vom Kriegsveteran zum Fleischereilieferanten auf, wurde zum "Problemlöser" für den Mafiaboss Russell Bufalino (Joe Pesci), und zum Bodyguard sowie engsten Vertrauten des Politikers Jimmy Hoffa (Al Pacino). Doch mittlerweile ist er allein und rückblickend beginnt er zu erzählen, über sein Leben, sein Schicksal, seine Fehler.
In meinem Jahresrückblicksartikel habe ich es bereits erwähnt: "The Irishman" ist mit "Midsommar" der beste Film des letzten Jahres. Deshalb freut es mich umso mehr, dass das Werk die nötige Würdigung erhält - er ist zehnfach oscarnominiert (darunter als bester Film), wird von vielen zurecht extrem gelobt und wurde, laut dem offiziellen NetflixDE Twitteraccount, in den ersten sieben Tagen weltweit von über 26 Millionen Accounts geschaut.
Die übliche Kritik, die der Film dabei mancherorts erfahren muss, wird ihm nicht gerecht und könnte unbegründeter kaum sein. "Zu lang", "zu alte Darsteller" - nun ja, dazu später noch mehr. Tatsächlich zu bemängeln ist nur, dass der Film mit seiner Flut an Informationen in den ersten dreißig Minuten nicht greifbar genug ist und das CGI-Blut teilweise nicht gut aussieht, aber das sind Kleinigkeiten.
Spätestens nach seiner Anlaufphase entwickelt er sich nämlich zu einer äußerst komplexen, spannenden und bewegenden Story, die derart viel zu erzählen hat, dass bei einer Laufzeit von 210 Minuten keine Sekunde zu viel ist.
Mit immer neuen Verstrickungen etabliert sich ein meisterhaft geschriebenes, bitteres Charakterdrama, welches als Abgesang auf die Mafiazeit nicht schlagkräftiger sein könnte. Wie konsequent der Film seine meisterhaften Charaktere zu Grunde gehen lässt, sorgt nicht nur für bewundernswertes Unbehagen beim Zuschauer, sondern übt auch treffend böse Kritik an der Gewaltbereitschaft und den Fehlern der Mafia beziehungsweise ihrer Individuen.
Über die gesamte Länge ist der Film dabei so clever erzählt, dass man den perfekt ambivalent gezeichneten Figuren richtig nahe kommt und er zu keiner Zeit ermüdet oder gar redundant erscheint, was sich insbesondere auf das Ende auswirkt: Als melancholischer Zirkelschluss wirkend entlässt es den Zuschauer an einer Stelle, die den Film erneut unumstößlich auf den Punkt bringt und trauriger kaum sein könnte.
Bei einer so vielschichtigen Story - schließlich taucht der Film in mehrere Lebensabschnitte seiner Figuren ein - hat Scorsese daher den Schritt gewagt, die Darsteller digital zu verjüngen, was der künstlerischen Aussage des Filmes nur zugute kommt - fast biografisch empfindet man das Werk. Unsinnig ist daher, es als "unlogisch" zu verurteilen, wenn die Darsteller auch in der jüngeren Version einen älter wirkenden Gang aufweisen (als müsse ein Kunstwerk, was Filme zwangsläufig sind, der eigenen Logik entsprechen).
Den grandiosen Darsteller würde dies nämlich nicht gerecht werden. Sei es die ruhige, brodelnde Ausstrahlung eines Jo Pescis, das distanzierte, immer melancholischer werdende Schauspiel Robert DeNiros oder die dominierend tadellose Darstellung Al Pacinos - ersterer und letzterer sind beide oscarnominiert worden, insbesondere Pacino wünsche ich ergänzend den Sieg.
Hervorzuheben sind ebenso einerseits die meisterlich geschriebenen Dialoge, die nicht nur beachtlich unverwandt die Mafiakultur widerspiegeln, sondern mit mehreren tiefgründigen Ansätzen zum Hinterfragen, zum Nachdenken anregen und den Film zweifelsohne fehlerfrei tragen. Andererseits ist es ununmgänglich, die perfekte Auswahl an Liedern, die den Film begleitet, zu erwähnen, angefangen allein bei dem wundervollen Titellied "In the Still of the Night". Denn die einzelnen Musikstücke sind besonders pointiert eingesetzt, wodurch sie ausgewählte Szenen unnachahmlich unterstreichen und so im Gesamtkomtext verstärken; besonders eindrucksvoll lässt sich das an einem Mord mitten einer Menschenmenge festmachen, während in Zeitlupe jemand blutig erschossen und dazu ein absichtlich absurdes Lied gespielt wird, um die Gewalt zu abstraktieren.
Selbige erreicht lobenswerterweise zu jedem Zeitpunkt die nötige Intensität, um die grausamen Ereignisse des Filmes mit einer verstärkenden, visuellen Wucht zu unterstreichen. Das spritzende Blut sprengt nie den Rahmen, zeigt aber auch, dass Gewalt eben nichts schönes ist.
Die FSK 16 ist somit die perfekt passende Freigabe, eine höhere braucht er nicht, für eine niedrigere ist er doch zu brutal. Für Kinder unter 16 ist der Film nicht nur zu unverständlich, sondern auch zu grausam, weswegen auch ich ihn ab 16 freigeben würde (Brutalität: 5 von 10 für ab 16).
Am interessantesten ist der Streifen allerdings aus Sicht der Filmsprache, die gereifter kaum sein könnte. Das fängt allein bei der ersten Kamerafahrt an, in der das Bild der Sicht eines Beobachters gleicht, welcher seinen Weg hin zum Protagonisten antritt, um folgend dessen Lebensgeschichte zu lauschen. Fortführend gibt es laufend wichtige Details, die den Film und die Charaktere auf so vielen Ebenen skizzieren, so viele versteckte Beziehungen sowie Querverweise ausdrücken und zudem in der ruhigen, mehr als gelungenen Kameraführung perfekt portraitiert werden - über die Feinheiten von "The Irishman" liese sich seitenweise schreiben, wenn man sich beispielsweise des Symbolcharakters der offenen Tür bewusst wird.
Das würde an dieser Stelle aber zu weit führen, weswegen ich nun in einem Fazit erneut festhalte, wie verdient die zehnfache Oscarnominierung für "The Irishman" doch ist. Er ist nicht nur das auf lange Zeit letzte, sondern auch (mit) das beste Mafiaepos, welches in der Filmwelt existiert und somit, wie eingangs erwähnt, knapp nach "Midsommar" der beste Film des Jahres 2019.
Wer ihn noch nicht gesehen hat, sollte sich von der 210 minütigen Laufzeit nicht abschrecken lassen und dies schleunigst nachholen. Als Drama erhält der Film 9,5 Punkte, als Thriller 9 und als Mafia- bzw. Gaunerfilm 10 Punkte sowie insgesamt
9 von 10 Punkten.