
Bewertung: 5 / 5
Der deutsche Komiker Johann König brachte 2016 ein Buch mit dem augenzwinkernden Titel "Kinder sind was Wunderbares ... das muss man sich nur immer wieder sagen!" in den Handel. Auf brillant humoristische Art arbeitet er darin das Elternsein auf – und zwar in all seinen Facetten, die man wahrscheinlich nur nachvollziehen kann, wenn man selbst Kinder hat.
Nimmt man jedoch all den Humor heraus, bekommt man ein Bild, das gar nicht mehr so witzig ist und vor allem brutal realistisch. Was dann bleibt, ist der Film Tully. Ein Film, der erzählt, was die Turteltauben nach der "romantischen Liebeskomödie" erwartet. Es ist immer wieder interessant: Wenn man sich mit anderen Eltern austauscht, scheinen die anderen Kinder immer Musterkinder zu sein, die abends brav um 18:00 ins Bett gehen, durchschlafen, am nächsten Morgen vorbildlich am Frühstückstisch sitzen, sich selbst das Pausenbrot schmieren, zum Kindergarten gehen und am Nachmittag ihre Spanischkenntnisse vertiefen, während sie sich ein paar neue Socken klöppeln. Man denkt, man macht selbst etwas falsch, da die eigenen Kinder scheinbar so abnormal falsch ticken. Man traut sich fast nicht zu sagen, dass man jede Nacht einmal um 1:00 und einmal um 4:00 aufstehen muss, dass man seine Kinder ständig ermahnen muss, da einem tagsüber die Zeit davonrennt. Die rotunterlaufenen Augen sind kein Zeichen von Übernächtigung, sondern Auswirkungen einer Allergie. Genau von dieser harten Arbeit erzählt dieser Film – nicht ohne zusätzlich auch eine wenig Kritik an den Herren der Schöpfung zu üben.
Trailer zu Tully
Kinder zu kriegen, die hormonellen Umstellungen, das Stillen, körperliche Veränderungen durch Schwangerschaft und Stillzeit - und die dadurch einhergehende Demütigung durch den Spiegel -, die "24/7-Supportzeit"… all das ist ein unglaublich harter, erschöpfender Knochenjob. Muttersein ist neben all den wunderschönen Momenten, die aus einer der schmerzhaftesten Erfahrungen im Leben einer Frau (die Geburt) resultiert, eine extrem zermürbende Arbeit, die bis hin zu einer Art Burnout führen kann. Schmerzen durch Stillen und "Abpumpen", Schlafmangel, der ständige Kontakt mit Erbrochenem und dem großen und kleinen Geschäft und der tägliche Kampf mit einem Baby/Kleinkind, das sich nur durch Schreien ausdrücken kann, wird letztlich ausschließlich durch ein Lächeln ebenjenes Kindes aufgewogen.
Nicht selten haben Kinder besondere Bedürfnisse, sei es aufgrund einer Krankheit, die manchmal auch über eine leichte Erkältung hinausgeht, wie Stoffwechselerkrankungen (z.B. Diabetes), oder psychische Entwicklungsstörungen (ADS, Autismus), sei es durch sonstige Ängste, oder Probleme. So potenziert sich der Stress, den die Mutter aushalten muss, wenn das eine Kind Probleme in der Schule hat, Kind Nummer drei noch gestillt wird und das mittlere Kind ebenfalls seine Aufmerksamkeit einfordert.
Im Idealfall gibt es auch noch einen Vater im Haushalt (das ist nicht selbstverständlich), der jedoch selbst – meist als Alleinverdiener – unter Stress steht und dazu neigt, sich selbst aus der Verantwortung zu ziehen. Er kommt nach einem 8-Stundentag nachhause und will sich nur noch entspannen. Er realisiert gar nicht, dass seine Frau einen 24-Stundentag hat und seit dem ersten Stillen um 1:00 morgens bereits total fertig ist. Das Schema bleibt dasselbe – jeden Tag… über Wochen und Monate. Während ER sich abends via Spielekonsole vom Stress befreit, wird IHR Stress von Tag zu Tag größer. Die Grenzen der psychischen Belastbarkeit werden immer weiter gedehnt und drohen zu kollabieren.
Ich muss sagen, dieser Film ist brutal ehrlich und führt uns diesen alltäglichen Wahnsinn vor Augen. Wir (meine Frau und ich) saßen vor dem Schirm und konnten uns extrem mit der Handlung identifizieren. Natürlich ist die Darstellung des Ehemanns überzeichnet (zumindest glaube ich das), aber der psychische Druck wird unglaublich gut festgehalten und metaphorisch auf die Leinwand gebracht. Die Wendung am Ende ist grundsätzlich vorhersehbar, aber dennoch genial umgesetzt. Man weiß Bescheid, man leidet mit, man kennt den Job und man versteht sogar den Ehemann, wenn er nach dem Kollaps am Schluss gar nicht richtig nachvollziehen kann, was überhaupt passiert ist.
Ein grandios gespielter Film mit perfekt eingefangenen Bildern. Ein Drama mit unglaublicher Wucht, welches vielen Eltern aus der Seele sprechen dürfte. Wie gesagt, ich weiß nicht, ob kinderlose Menschen den Film so verstehen, wie Eltern, aber es sollte auch für jene ein Lehrobjekt sein… ein guter Rat, den man mitnehmen sollte, wenn man vor der Familienplanung steht und die Aufforderung an jede Frau, den Mund aufzumachen, wenn ihr der Druck zu groß wird.
