++ Update vom 12.11.2019: Es ist immer noch nicht vorbei. MCU-Mastermind Kevin Feige nimmt Anstoß an Martin Scorseses Aussage, dass Superheldenfilme risikobefreite Angelegenheiten sind, und führt Gegenbeispiele ins Feld.
Bei The First Avenger - Civil War habe man zwei der populärsten Charaktere in eine sehr ernste theologische und physische Auseinandersetzung verwickelt. Und man habe am Ende eines Films (Avengers - Infinity War natürlich) die Hälfte aller Charaktere getötet! Es mache ihnen Spaß, ihren Erfolg zu nehmen und zu nutzen, um Risiken einzugehen und unterschiedliche Richtungen einzuschlagen.
Die Behauptung Scorseses, Marvel-Filme seien kein Kino, hält Feige für falsch und unglücklich. Da muss er widersprechen: Er selbst und jeder, der an diesen Filmen arbeite, liebe Kino, liebe Filme und liebe es, ins Kino zu gehen, um Filme zu schauen und an einem gemeinschaftlichen Erlebnis in einem Kinosaal voller Leute teilzunehmen.
Aber Feige findet auch versöhnliche Worte: Jede habe eine andere Definition von Kino, Kunst und Risiko, und jeder habe ein Recht darauf, seine Meinung zu haben, diese Meinung zu wiederholen und Kolumnen darüber zu schreiben. Er freue sich darauf, was als nächstes passieren werde. In der Zwischenzeit jedoch werde man damit fortfahren, Filme zu machen.
++ Update vom 06.11.2019: Um endlich einen Schlussstrich unter dieses leidige Kapitel zu ziehen, hat Martin Scorsese einen ganzen Aufsatz verfasst, in dem er seinen Standpunkt ein für alle Mal klarmacht. Und die New York Times hat ihn publiziert. Wir greifen uns nur die wichtigsten Aspekte heraus, da das Thema ja schon in Grund und Boden diskutiert wurde.
Scorsese gibt zu, dass Marvel-Filme nicht nach seinem Geschmack sind (was völlig legitim ist) und erläutert: Viele der Elemente, die Kino, wie er es kenne, definieren, seien in Marvel-Filmen vorhanden. Was nicht vorhanden sei, seien Offenbarungen, Mysterien oder echte emotionale Gefahr. Nichts stehe auf dem Spiel, so Scorsese. Die Filme seien dazu da, ein spezifisches Set von Erfordernissen zu befriedigen, und als Varianten einer begrenzten Anzahl von Themen designt.
Bei Kino geht es um Risiko, argumentiert Scorsese. Darum, Risiken einzugehen und eine potenzielle Monokultur mit neuen Ideen aufzubrechen. Er deutet an, dass Superheldenfilme zuallererst aus geschäftlichen Beweggründen heraus gemacht werden, also um Tickets, Spielzeuge und Merchandise-Artikel zu verkaufen - und erst an zweiter Stelle aus künstlerischen. Und weil Superheldenfilme quasi in der Vorstandsetage ihren Anfang nehmen, wird jegliches Risiko eliminiert.
Die verhängnisvollste Veränderung habe sich still und heimlich vollzogen: die allmähliche, aber stetige Beseitigung des Risikos. Viele Filme seien heutzutage perfekte Produkte, gefertigt für den sofortigen Konsum. Vielen von ihnen seien auch gut gemacht, von Teams talentierter Personen. Nichtsdestotrotz fehle ihnen etwas, das für Kino essenziell sei: die vereinigende Vision eines individuellen Künstlers. Denn natürlich sei der individuelle Künstler der risikoreichste Faktor von allen.
Die Situation sei traurigerweise, dass man jetzt zwei separate Felder habe, schreibt Scorsese: Es gebe das weltweite audiovisuelle Entertainment, und dann gebe es Kino. Von Zeit zu Zeit überschneiden sie sich noch, doch das geschehe immer seltener. Und er fürchte, dass die finanzielle Dominanz des einen genutzt werde, um die Existenz des anderen an den Rand zu drängen und sogar herabzusetzen.
++ Update vom 28.10.2019: Nun rudert Martin Scorsese doch ein wenig zurück, ohne von seinem Standpunkt abzuweichen, dass Marvel- bzw. Superheldenfilme wie Vergnügungsparks sind. Wenn eine Familie in einen Vergnügungspark gehen wolle, sei das eine gute Sache, erklärt er bei Entertainment Tonight. Die filmischen Entsprechungen dessen seien eine neue Kunstform. Sie unterscheiden sich von Filmen, die normalerweise in Kinos gezeigt werden, das sei alles.
Um diese "klassischen" Kinofilme macht sich Scorsese Sorgen - darum, dass sie die Leinwände an die großen Vergnügungspark-Filme verlieren, die eben ihre eigene neue Kunstform seien, wie er bekräftigt. Das Kino sei im Wandel begriffen. Es gebe so viele Schauplätze, so viele Möglichkeiten, um Filme zu machen. Und es sei auch toll, ein Event wie einen Vergnügungspark zu besuchen, aber man solle bloß nicht Leute wie Greta Gerwig, Paul Thomas Anderson oder Noah Baumbach aus den Kinos verdrängen.
++ News vom 24.10.2019: Es ist zurzeit die Debatte schlechthin: Sind Marvel- und Superheldenfilme allgemein Kino? Für Martin Scorsese nicht, er vergleicht sie geringschätzig mit Vergnügungsparks und hat in Francis Ford Coppola einen Unterstützer gefunden, der es noch drastischer formuliert. Auch andere, etwas weniger legendäre Filmemacher wie Ken Loach (Ich, Daniel Blake), Fernando Meirelles (City of God) und Pedro Almodovár (Alles über meine Mutter) haben sich auf seine Seite geschlagen, während man im MCU-Lager verständlicherweise not so amused ist. Vor allem James Gunn konnte das nicht auf sich sitzen lassen.
Die Diskussion tobt weiter, und jetzt hat sie sogar die höchste Instanz erreicht: Bob Iger, der Chairman und CEO der Walt Disney Company, schaltet sich ein. Zunächst einmal stört er sich an dem Wort "despicable" (auf Deutsch: "verachtenswert", "jämmerlich"), das Coppolla in Bezug auf Superheldenfilme gebraucht hat. Dieses Wort würde er eher für jemanden reservieren, der Massenmord begangen habe, meint Iger.
Er könne nicht verstehen, wofür Scorsese und Coppola sie kritisieren, und sei verwundert darüber. Wenn sie über Filme herziehen wollen, sei das sicherlich ihr gutes Recht. Es wirke nur so respektlos gegenüber all den Leuten, die an diesen Filmen arbeiten, und zwar genauso hart wie die Leute, die an Scorseses und Coppolas Filmen arbeiten. Sie setzen genauso sehr ihre kreativen Seelen aufs Spiel, sagt Iger. Wolle man ihm etwa erzählen, dass es irgendwie weniger wert sei, wenn Ryan Coogler Black Panther mache, als alles, was Scorsese oder Coppola jemals bei einem ihrer Filme gemacht haben?
Interessant auch der Kommentar von Benedict Cumberbatch, unserem Doctor Strange aus dem Marvel Cinematic Universe: Er wisse, dass es kürzlich viele Diskussionen gegeben habe, als diese sehr guten Filmemacher vorgetreten seien und moniert haben, dass diese Film-Franchises alles übernehmen. Aber sie glücklichen Schauspieler, die sie beide Arten von Filmen an beiden Enden des Budget-Spektrums machen können. Und er stimme zu, so Cumberbatch. Man wolle doch nicht, dass ein König über alles herrsche und ein Monopol entstehe. Hoffentlich sei das nicht der Fall, und man sollte wirklich zusehen, dass man Autorenfilmer weiterhin auf jeder Ebene unterstütze.