Bewertung: 4.5 / 5
Carpe diem, carpe mortem. Wenn man sich Vergänglichkeit, Tod und das Ende des Universums vor Augen führt und als naturwissenschaftliche Tatsachen begreift, wird man keine Zeit mit unnötigen Gedanken an den eigenen Tod verschwenden, sondern im Hier und Jetzt leben, das Leben als eine Party wahrnehmen und zu deren Musik fett abtanzen. (Zumindest metaphorisch gesehen, in der Realität bleibt das die Sicht einer privilegierten Person, die sich diese Sicht und Lebensweise eben leisten kann, aber das ist ein anderes Thema.) Doch was ist, wenn man anstatt des Endes des Universums den Fortbestand der Menschheit im Blick hat und einen die Angst umtreibt, was man der Welt nach dem eigenen Tod hinterlässt? Zunächst bleiben noch die Erinnerungen von Familien und Freunden, die nach und nach verblassen (Vorwegnahme: der Geist im Nachbarhaus), was bleibt danach? Was ist, wenn man nicht mit dem Leben abschließen kann?
Diesen existentiellen Fragen geht David Lowery in "A Ghost Story" nach. Das Paar C und M (Casey Affleck und Rooney Mara) wohnt zusammen in einem Haus, C arbeitet als Musiker, bis C eines Tages bei einem Autounfall stirbt und danach - anstatt in das Jenseits einzutreten - als für Menschen unsichtbarer Geist zurückkehrt. C und M, das könnte auch "See me(?)" bedeuten. Während M irgendwann wegzieht und einen neuen Lebensabschnitt beginnt, bleibt C als Geist an die Örtlichkeit gebunden. Der Wohnort als emotionaler, erinnerungsreicher und im Idealfall sozialer Fixpunkt, vielen Menschen dürfte es Überwindung kosten, einen solchen Wohnort für einen anderen zu verlassen, sei es nun wegen der Liebe, Familienplanung oder wegen einer Arbeitsstelle. Ich zum Beispiel bin ein sehr heimatverbundener Mensch und für mich ist es eine Horrorvorstellung, an einem neuen Ort ein neues Leben zu beginnen. Auch wenn seit meinem Studium eine Verbindung zu Bochum besteht, habe ich die Stadt oder meine beiden Wohnorte dort nie wirklich als mein Zu Hause empfunden. Andererseits kann ein Umzug auch hilfreich sein, gerade um alte Erinnerungen eben loszuwerden, beispielsweise bei traumatischen Erlebnissen oder bei einem Todesfall wie hier im Film geschildert.
Trailer zu A Ghost Story
Abseits der wortwörtlichen Bedeutung steht die Örtlichkeit des Hauses in "A Ghost Story" metaphorisch auch für das Leben im Diesseits. Wie schon geschrieben, bleibt C als unsichtbarer Geist an die Örtlichkeit gebunden. Zunächst beobachtet er teils von Eifersucht geplagt das weitere Leben Ms im Haus sowie das Ein- und Ausziehen von Familien oder Singles, mit zunehmender Verstörung muss C allerdings auch die Zerstörung und Neuerrichtung von Gebäuden, das Sterben von Menschen sowie den Untergang alter und die Entstehung neuer Zivilisationen mit ansehen, der Fluss der Zeit ist radikal und unbarmherzig, C im Vergleich ein Nichts. Der Bulldozer als Horrorelement verfügt über mehr Gravitas als so ziemlich alle Jumpscares, die sich im heutigen populären Horrorkino finden lassen.
Obwohl "A Ghost Story" im letzten Drittel einen größeren Rahmen steckt, bleibt es durchgehend ein sehr intimer Film, der sich voller Melancholie auf außergewöhnliche Weise mit Trauer, Verlust und Einsamkeit auseinandersetzt. Sowohl allgemein betrachtet als auch im Hinblick auf den Existentialismus. Zu Beginn die vertrauliche Bettszene mit C und M als Kontrast zum folgenden Verlauf der Handlung, dann die ausgedehnte Kuchenszene, in der M ihre Trauer mit kulinarisch-sinnlicher Stimulans zu bekämpfen versucht. Bezogen auf C auf dinglicher Ebene allein schon deswegen, weil Casey Affleck größtenteils stumm und unsichtbar für seine Mitmenschen und mit einem Laken über dem Kopf auftritt, auf filmsprachlicher Ebene seine Verortung im Raum. Während der Kuchenszene fokussiert sich die Kamera rein auf M, sodass man leicht vergisst, dass C überhaupt anwesend ist, ansonsten sieht man C oft nur in Großbildaufnahme oder durch Fenster hindurch. In der Musikszene berührt M unwissentlich beinahe den Saum von Cs Laken - wie eine Erinnerung, die beinahe der Realität gleicht -, in der Großstadtszene verliert sich C als Individuum im Schauplatz.
So wie M C und das Haus hinter sich gelassen und einen neuen Lebensabschnitt begonnen hat, muss auch C lernen, M, das Haus und das Leben hinter sich zu lassen und den Tod zu akzeptieren. Schließlich ist der Tod für den gut vorbereiteten Geist nur das nächste große Abenteuer.