In der beschaulichen Kleinstadt Lumberton geht scheinbar alles seinen friedlichen Wegen nach: Die Gartenzäune sind adrett weiß gestrichen, die Blumen davor blühen und alles wirkt einladend und beschaulich. Das Leben von Jeffrey Beaumont könnte eigentlich nicht behüteter sein, wenn nicht sein Vater gerade einen Schlaganfall gehabt hätte und im Krankenhaus läge.
Auf dem Rückweg von einem seiner Besuche beim Senior findet Jeffrey zufällig ein abgetrenntes Ohr, das er sogleich zur Polizei bringt. Detective John Williams nimmt den Hinweis und das mögliche Beweisstück gerne entgegen, muss aber Jeffreys Interesse an der weiteren Entwicklung des Falles eine Absage geben. Nicht so diskret ist dagegen Sandy, die Tochter des Detective, die Jeffrey darin einweiht, dass sie von ihrem Vater bereits mitbekommen hat, in welche Richtung die Ermittlungen gehen könnten.
Aus einer Mischung aus Neugierde und Naivität beginnen die beiden, auf eigene Faust zu ermitteln, was sie bald auf eine mysteriöse Sängerin mit dem Namen Dorothy Vallens bringt. Aber wie schon die oft gefeierte Eingangssequenz andeutet: manchmal kann es gefährlich sein, an der Oberfläche zu kratzen.
„Blue Velvet“ ist die Sorte Film, aus dem man nicht herausgehen kann, ohne irgendeine Art von Reaktion zu zeigen. Nach seinen gefeierten Frühwerken „Eraserhead“ und „Elephant Man“, gefolgt von dem desaströsen „Dune“, der beinahe David Lynchs Ruf ruinierte, kommen hier die Talente des Regisseurs zu einem großartigen Ganzen zusammen.
Und genau das bringt mich zu einem Problem: ich habe keinen guten Winkel gefunden, um etwas über diesen Film zu schreiben, ohne dabei einfach die Stilmittel von Lynch runter zu rattern. Bis mir bei einem Blu-Ray Extra jemand auffiel, der ebenfalls eine starke Reaktion auf den Film hatte: Roger Ebert, der eine wenig charmante ein-Stern-Kritik schrieb, also komplett konträr zu so ziemlich allen anderen die den Film gesehen haben.
Und ich glaube, ich habe meinen Angriffswinkel gefunden... Denn das ist einer der Filme, wo Herr Ebert mal komplett daneben haut.
"Blue Velvet" contains scenes of such raw emotional energy that its easy to understand why some critics have hailed it as a masterpiece. A film this painful and wounding has to be given special consideration.“
Zwei Sätze in Eberts Review bin ich noch voll an Bord, das ist tatsächlich eine wunderbare Kurzfassung des Filmes. Lynchs Talent, aus Szenen, die vielleicht rein logisch nicht besonders realistisch sind, aber assoziativ wunderbar funktionieren und beim Zuschauer Emotionen auslösen, kommt hier voll zur Geltung. Das können kleinere Szenen sein, in denen Sandy scheinbar aus dem mysteriösen Dunkel auf Jeffrey zu geht, in der nächsten Szene aber im Scheinwerferlicht direkt neben ihm steht, oder größere, wie die scheinbar völlig deplatzierte Frau auf dem Dach des Autos, die tanzt während sich um sie herum eine mit Gewalt geladene Szene entfaltet. Kern des Filmes ist eine Kriminalgeschichte, aber Lynch ist scheinbar nur rudimentär am exakten Prozedere der Lösung des Falles interessiert. Die Leitthemen sind vielmehr die Schaulust, was er aus seinem vorherigen Film „Elephant Man“ übernommen hat, die fragile Zweisamkeit aus Erotik und Gewalt (oder was manche darunter verstehen) sowie sein immer wiederkommendes Motiv: die seltsame Ähnlichkeit von Unheimlichkeit und Vertrautheit. Und dabei setzt Lynch oft auf Kontraste, und an diesem Punkt hat Herr Ebert ein Problem.
„The movie has two levels of reality. On one level, were in Lumberton, a simple-minded small town where people talk in television cliches and seem to be clones of 1950s sitcom characters. On another level, were told a story of sexual bondage, of how Isabella Rossellinis husband and son have been kidnapped by Dennis Hopper, who makes her his sexual slave. [...]
Everyday town life is depicted with a deadpan irony; characters use lines with corny double meanings and solemnly recite platitudes. Meanwhile, the darker story of sexual bondage is told absolutely on the level in cold-blooded realism.“
Ebert macht hier leider eine falsche Einschätzung, die oft passiert: Er scheint anzunehmen, dass Lynch Traum und Realität verwischt, oder auf verschiedenen Ebenen erzählt. Das ist aber nicht der Fall, Träume werden bei Lynch normalerweise als solche markiert (die „Lady in the radiator“ in „Eraserhead“ als Beispiel). Ebert stolpert hier über den genannten Punkt des Assoziativen: Lynch erzählt „traumhaft“, und appelliert gezielt an die Emotionen des Zuschauers, aber er verwischt nicht die Realitäten. Im Gegenteil sogar: Kern der Handlung ist es, wie nennen wir es das Böse, oder Gewalt, oft nur unter der Oberfläche lauert, vielleicht schon invasiv in die beschauliche Welt eingedrungen ist. Vielleicht bin ich dabei sogar schon wertender, als es Lynch eigentlich sein will, denn gerade bei dem Kernthema Sex bleibt er hier seltsam ambivalent (bis zu einem gewissen Punkt...).
Wie dem auch sein, diese Fehleinschätzung, der Film fahre zweigleisig, und der eine Teil sei nur eine Satire, hat böse Folgen für Eberts Schlussfolgerungen.
„If "Blue Velvet" had continued to develop its story in a straight line, if it had followed more deeply into the implications of the first shocking encounter between Rossellini and MacLachlan, it might have made some real emotional discoveries. Instead, director David Lynch chose to interrupt the almost hypnotic pull of that relationship in order to pull back to his jokey, small-town satire. […]
The sexual material in "Blue Velvet" is so disturbing, and the performance by Rosellini is so convincing and courageous, that it demands a movie that deserves it. American movies have been using satire for years to take the edge off sex and violence.“
Ebert macht hier einen Fehler, der für einen Filmkritiker-Veteranen von seinem Format fast schon schockierend ist: er wünscht sich einen anderen Film, weil er das Material gerne anders bearbeitet sehen würde, und/oder die Form von Lynchs Film nicht versteht oder verstehen will. Ebert war immer auch ein Charakterkopf, aber das ist subjektivistisch auf einem Level, dass man eigentlich nur von einem Ausreißer reden kann. Lynch benutzt keinen Humor, um den „Biss“ aus Sex und Gewalt zu nehmen, er baut Kontraste auf. Diese Kontraste machen den Film so stark, und da Ebert dies selber bemerkt muss man sich wundern, wie er den Zusammenhang übersehen konnte.
Zumindest lobt er die Arbeit von Isabella Rossellini, das macht wieder versöhnlich. Aber dann...
„In one scene, shes publicly embarrassed by being dumped naked on the lawn of the police detective. In others, she is asked to portray emotions that I imagine most actresses would rather not touch. She is degraded, slapped around, humiliated and undressed in front of the camera.
Whats worse? Slapping somebody around, or standing back and finding the whole thing funny?“
Oje oje... So sehr ich noch mit seinen Einleitungssätzen übereinstimme, Eberts letzter Absatz ist der Sargnagel in seinem Review.
Zunächst einmal, öffentlich blamiert und sie (schau-)spielt Emotionen, die andere Schauspielerinnen lieber nicht spielen würden. Ja, es heißt „Schauspielen“, das nennt sich professionell arbeiten in dem Job. Nur weil Ebert diese Situationen unangenehm sind heißt ja nicht, dass sie künstlerisch wertlos sind. Frank Booth, mit dem Dennis Hooper übrigens einen Bösewicht für das Jahrzehnt geschaffen hat, der Darth Vader einen „run for his money“ geben könnte (die Sauerstoffmaske funktioniert sowohl als Verballhornung des genannten, aber auch als thematische Fortsetzung der mechanischen Entmenschlichung, mit der Lynch in „Dune“ gespielt hat), wird nicht lustig in Szene gesetzt, noch wird er oder seine Taten irgendwo rehabilitiert. Der Film baut eine gewisse Ambivalenz auf, was Erotik/Sex für Individuen bedeuten kann, und Ebert verurteilt ihn dafür, dass er dies nicht nach seinen Vorstellungen macht.
Nicht umsonst spielt über der letzten Szene der Song „Mysteries of Love“, aber da hat Herr Ebert wohl leider schon nicht mehr zugehört.
„Blue Velvet“ ist ein voll entwickelter „Lynch“: mysteriös, befremdlich, unberechenbar, fordernd und voll mir großartigen Charakteren. Er ist ein Meisterwerk darin, die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu halten, und wird etwas in einem aufwühlen. Ein absolutes Muss aus den Achtzigern für Filmliebhaber.