Bewertung: 5 / 5
Da geht man schon mit exorbitant hohen Erwartungen ins Programmkino seines Vertrauens in dem Wissen, ein schwülstiges und extrem übertriebenes südamerikanisches Melodram aufgetischt zu bekommen, und dann sitzt man in einem extrem nüchtern, fast schon europäisch anmutenden Koloss von Gesellschaftsfilm drin, und das von Anfang an. Es ist schon schwer genug, die Schriften am Anfang zu verfolgen, aber der Sperrigkeit wird noch mehr Genüge getan, indem der Film von Anfang an sich eben der typisch schwülstigen Telenovela-Inszenierung entzieht, jegliche selbst aufgebauten Erwartungshaltungen unterwandert (ganz groß die Szene mit den Kindern im cafe, wo diverse parallele Themen auf einmal verhandelt werden!) und sich fast schon in Blechtrommel-Manier als grandiose Literaturverfilmung präsentiert. Aber eines nach dem Anderen:
Die Sehnsucht der Schwestern Gusmao erzählt die Geschichte zweier Schwestern, die durch eine Lüge des Vaters jahrzehntelang voneinander getrennt werden, einander ständig suchen, aber nie finden können, da diese Lüge sie einfach um Welten voneinander trennt. Geradezu parallel verlaufen ihre immer weiter divergierenden Lebenswege und Entscheidungen sowie Sehnsüchte, die immer wieder von dieser patriarchisch geprägten Welt mit den Füssen getreten werden.
Trailer zu Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão
Dabei wäre es ein Einfaches zu behaupten, dass die Männer hier die Schweine sind, so einfach macht es sich der Film eben nicht, es ist die Gesellschaft, die den Männern diese Denke aufzwingt, und selbst ein grundanständiger Kerl (immer im Rahmen dessen, was dieser Film dafür hergibt) wird irgendwann zu einem unmöglichen Monster, sei es um seine Werte zu schützen oder die Familie (zumindest das, was er jeweils dafür hält).
Was die Sehnsucht der Schwestern Gusmao eben nicht macht (die Männer melodramatisch zu überzeichnen), kommt dem Film je länger er dauert aber umso mehr zu Gute, denn die lapidare Geringschätzung der Frau in der Gesellschaft wird zunehmend unerträglicher und irgendwann trotz aller Nüchternheit sogar fast schon karikaturesk überzeichnet. Das ist ganz großes und direktes Kino, das den begriff südamerikanisches Melodram auf ein ganz anderes Niveau hebt.
Und wenn am Ende eine Schwester zerbrochen ist, dann ist die Grenze zum Erreichen des Zieles sehr dünn gewesen. Und die Entfernung zur anderen Schwester noch kleiner. Und es bleibt die bittere Erkenntnis, dass wer sich in der Gesellschaft bewegen will, sich eben ihren Regeln unterwerfen muss. Und im Umkehrschluss eben, wer nicht mehr in der Gesellschaft lebt, der hat ganz andere Möglichkeiten.
Es wäre jetzt ziemlich albern, den Film als Sittengemälde einer längst vergangenen Männerdomäne abzutun, denn das ist er eben nicht. Er zeigt sogar einen recht augeschlossenen Ehemann, der sich seiner Schuld sogar irgendwie bewusst ist - früher hätte diese Type in solchen Filmen sogar noch mit seinem Schnurrbart gezwirbelt. Und genauso ist der Film eine allgemeine Abrechnung mit dem allgemein sehr konservativen Wertesystem, der ja gerade heutzutage wieder Hochkonjunktur bekommt: So ist der einzige Mann im ganzen Film, der einigermassen freundlich herüberkommt, nicht von ungefähr ein schwarzer ehemaliger Polizist, der mittlerweile sich als Privatdetektiv verdingen muss.
Die Schwestern Gusmao ist ganz großes Gefühlskino, das in einem allgemein recht schwachen Jahr trotz aller Nüchternheit die ganz großen Gefühle bedienen kann, und andere Vorzeigefilme dieses Spätherbstes bis Frühwinters 2019 allesamt das Fürchten lehrt. Er erzählt keine neue Story, aber die Story, die er erzählt, erzählt er mit zunehmender Dauer mit solcher Innbrunst, dass man unmöglich wegschauen kann.
Story, Darsteller, Regie, Kamera, alles passt: 10 Punkte!
Und der mit Abstand beste Film 2019! Wenn sich nicht schon alle auf den Parasite eingeschossen hätten, würde ich wetten, dass dieser Film den Oscar für den besten nichtenglischsprachigen Film (jaja, das heisst jetzt anders) bekommen muss!