Claude Lanzmann’s 566 Minuten lange Dokumentation über den Holocaust ist auf mehreren Ebenen monströs, von Aufwand und Filmlänge her, und natürlich vom Thema. 11 Jahre verbrachte Lanzmann von 1974 bis 1985, um die Tatorte und Schauplätze zu filmen, und Zeitzeugen, Opfer sowie Täter, zu befragen. Das Ergebnis ist ein 9 ½ Stunden langer Film, der unglaublich viele Facetten dieses bitteren Kapitels abdeckt. Der absolut hypnotisch ist, was bemerkenswert ist, da über die gesamte Dauer eigentlich nur Menschen reden. Und den man kaum in einer Sitzung durchsehen kann, sowohl von der Länge als auch von der emotionalen Belastung her.
Lanzmann bricht mit konventionellen Dokumentationen, indem er sich weigert Archivmaterial zu verwenden. Das gesamte Material stammt aus seinen Interviews und damals aktuellen Aufnahmen. Dadurch erreicht er etwas durchaus bemerkenswertes, eine quasi vollkommen authentische Wiedergabe durch die Menschen, die da waren. Interessanterweise wird dadurch die Aktualität des Ganzen, man muss bedenken zur Zeit der Aufarbeitung war der zweite Weltkrieg gerade drei Jahrzehnte vorbei, noch unterstrichen. Die ganze Geschichte, mit allen gruseligen Details, entfaltet sich quasi wie frisch aus der Quelle vor einem. Die Interpretation überlässt er dankbarerweise komplett den Zuschauer:innen.
Thematisch gibt sich der Film alle Mühe, wirklich alles abzudecken, aber im Kern fokussiert er sich auf einige Hauptthemen. Der Aufbau der Vernichtungslager im Osten, und die Vorbereitung der Abtransporte. Die Logistik der Transporte und die Abläufe in den Lagern. Zuständigkeiten, und wer an welcher Stelle was wusste (oder hätte wissen können/müssen). Das Leben im Ghetto sowie der Aufstand im Warschauer Ghetto, sowie die gescheiterte Revolte in Auschwitz selbst. Das Bild der Opfer und Täter voneinander. Lanzmann findet dabei seinen eigenen Rhythmus, und balanciert seine audiovisuellen Kompositionen geschickt. Viele Zeugenberichte werden so von langen Kamerafahrten durch die zerstörten Gänge der alten Baracken und Krematorien begleitet, was einen absolut fesselnden, verstörenden Eindruck hinterlässt. Auf der anderen Seite unterbricht er bestimmte Interviews nicht, auch wenn seine Gesprächspartner (und -Partnerinnen) unter der Last der Erinnerung fast kollabieren. Manchmal sagt ein Gesichtsausdruck, oder eben was man nicht in Worte fassen kann, am meisten aus. Roger Ebert hat in seiner Review hier ein Interview hervorgehoben, ich persönlich fand die Reaktion von Jan Karski am schockierendsten. Karski, der aussieht wie der Inbegriff eines gut gealterten Gentlemans, erklärt noch ausdrücklich, dass er für das Interview bereit ist, nur um beim Gedanken an seinen ersten Satz in Tränen auszubrechen und das Zimmer schnell zu verlassen (Lanzmann wird ihm mit dem Film The Karski Report noch eine eigene Dokumentation widmen, letztendlich hatte er bis zu 9 Stunden Interviewmaterial mit ihm).
Lanzmann ist unnachgiebig, bei allen. Wenn die Opfer nicht mehr können, fragt er weiter. „We have to do it. You know it.“ Auch bei den Tätern lässt er nicht locker. Er bohrt unnachgiebig, ohne Worte in den Mund zu legen oder ausfällig zu werden. Ob es nicht seltsam sei, dass ein deutsches Dezernat für die angebliche „Erhaltung“ des Ghettos verantwortlich war, während die Menschen dort auf der Straße sterben? „Ein Paradoxon.“ Ja, aber was heißt das? Lanzmann schält und legt dabei ein ganz essenzielles Problem der damaligen (hoffentlich) deutschen Gesellschaft offen: eine schockierende Zivilfeigheit und Obrigkeitshörigkeit. Auf die Frage an eine deutsche Siedlerin, warum sie denn nie versucht hat, die Häftlinge in Ketten einfach einmal anzusprechen, gibt diese zu, dass es zwar dafür kein Verbot gab, aber man habe sich halt nicht getraut. Vorauseilender Gehorsam, einer der Pfeiler, auf die die Nazis ihren Terror aufbauen konnten. Man kann sich nicht dem Eindruck entziehen, dass die Kriegsgeneration auch hier eine große emotionale Kälte an den Tag legt. Doch auch in Polen führte der Film 1985 zu einem Skandal und durfte nur in einer geschnittenen Version gezeigt werden, da viele Interviews einen immer noch weitverbreiteten Antisemitismus in Polen, oft bei Interviews direkt neben den ehemaligen Konzentrationslagern, an den Tag legten.
Das faszinierende an dem Film ist letztendlich aber auch, dass er die Zuschauer:innen nicht einfach nur niederwalzt, sondern durchaus immer wieder den Wert der Menschlichkeit sowie des Überlebenswillens der Opfer betont. Und wenn es nur in dem Wert liegt, den ein Tagebuch hat, das den Krieg überlebt hat und etwas überliefert. Und nicht zuletzt endet der Film mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto, und betont hier nochmal die Energie der Opfer, und differenziert dies von der blinden Passivität der (Mit-)Täter, die wie ein Block Blei über einigen Interviews hängt. Auf die Frage, warum er immer lächelt, sagt ein Überlebender nur: „Ich bin lebendig. Warum sollte man nicht lächeln.“ Das ist nur eine von vielen Weisheiten, die man aus diesem Film ziehen kann.