Bewertung: 4.5 / 5
"Der Junge muss an die frische Lust" ist ein im Ruhrpott der 70er Jahre eingebettetes Charakter- und Familiendrama, basierend auf der gleichnamigen Autobiographie von Hape Kerkeling. Mitreißend inszeniert und hervorragend gespielt. Ein Heimatfilm, der nostalgische Töne anschlägt, diese aber nicht verklärend einsetzt oder kritische Elemente (z.B. die Reaktionen auf Hapes sich entwickelnde Homosexualität) unter den Teppich kehrt, sondern stets ein vorwärts gerichtetes Ziel vor Augen hat.
Ich bin aktuell 27 Jahre alt und abgesehen von meiner fünfjährigen Studienzeit wohne ich immer noch in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr wohnten wir in der Oberetage des Hauses meiner Großeltern väterlicherseits, danach sind wir ein paar Straßen weiter in ein eigenes, neu gebautes Haus umgezogen. Neben dem Haus meiner Großeltern steht ihr altes Haus (das stammt noch aus dem 19. Jahrhundert), in dem wohnte in meiner Kindheit meine Patentante mit ihrem damaligen Freund. In unserem Dorfviertel wohn(t)en zudem meine Großeltern mütterlicherseits sowie deren Söhne mit ihren Famlien (also Onkel, Tante, Cousins^^). Die restlichen Onkel und Tanten wohnen in Nachbardörfern, gleiches gilt für diverse Großonkel und Großtanten, die man bei Feierlichkeiten regelmäßig sah.
Trailer zu Der Junge muss an die frische Luft
Meine Kindheit und Jugend wurde enorm von diesem ortsnahen und engverbundenen Familienleben geprägt, es war immer jemand da, den man ansprechen und der helfen konnte. Meine Eltern sind beide berufstätig, insbesondere mein Vater muss(te) lange arbeiten, für sie war es eine große Entlastung, dass sich meine Großeltern morgens und am frühmittags um mich und meinen Bruder kümmern konnten, mein gartenliebender Opa arbeitet(e) zudem oft in unserem Garten. Dass ich bei meinen Großeltern zu Mittag aß, viel Zeit in ihren Gärten und Wohnzimmern verbrachte oder zum Beispiel zusammen mit meiner Oma Kekse backte, gehörte zu meinem Alltag, mein gleichaltriger Cousin war gleichzeitig einer meiner besten Freunde.
Eine Großtante hatte (über ihren Mann?) berufliche Kontakte zur Firma Matchbox und schenkte mir daher oft Spielzeugautos, eine Tante bastelte mir immer Adventskalender und besuchte mit mir die Kirmes in einer größeren Nachbarstadt, der Freund meiner Tantentante hatte ein Regal voll mit Filmen auf VHS, bei denen ich mich manchmal bediente. Heutzutage laden ein Onkel und eine Tante ihre Kinder, meinen Bruder und mich einmal pro Jahr zu Ausflügen ein, einmal waren wir im Zirkus, einmal waren wir im "Rocky Horror Picture Show"-Musical. Mit meiner Cousine gehe ich mittlerweile gelegentlich ins Kino, weil wir ein gemeinsames Faible für Horrorfilme entdeckt haben.
Je älter ich und gleichzeitig je älter und hilfsbedürftiger meine Großaltern werden, desto mehr stelle ich fest, wie sehr dieses ortsnahe Zusammenleben auch meinen Großeltern zu Gute kommt. Von deren Kindern ist immer jemand da, der sich um dieses und jenes kümmern kann. Ich als Enkel - zeitweise auch mein Bruder oder meine Cousine - mähe den Rasen, während der letzten zwei Jahre in meiner arbeitssuchenden Zeit habe ich darüberhinaus noch ein paar andere Aufgaben übernommen.
"Der Junge muss an die frische Luft" erzählt selbstverständlich eine eigenständige Geschichte, die sich essentiell in eine vollkommen andere Richtung entwickelt, und doch kann ich mit diesem Einblick in mein Leben meinen Eindruck vom Film wesentlich besser zum Ausdruck bringen, als wenn ich etwas über den Film erzähle. Zumindest hoffe ich das^^
Der Film zeigt auf, wie sehr das einzelne Individuum vom großfamiliären Zusammenleben und Zusammenhalt geprägt wird und davon profitieren kann. Gegenseitige Unterstützung und Hilfe bei kleineren und größeren Angelegenheiten, das Überwinden von einschneidenden Schicksalsschlägen, Freizeitgestaltung in diverser Form. Kleines Highlight: In der Szene, als sich Hape auf Ommas Sauerbraten mit Kartoffeln und Rotkohl freut, das hätte zu 100% ich sein können :D