Bewertung: 4 / 5
DDR, 1970er Jahre: Ein Mann fährt mit seinem Bruder auf seinem Motorrad durch die Landschaft. Er biegt falsch ab und landet im deutsch-deutschen Grenzgebiet. Er will wenden. Einige Momente später ist er tot. Erschossen von einem Grenzsoldaten. Dieses Schicksal ist nur eines von vielen. Nach dem Fall der Mauer wurden einige obere Befehlshaber zur Verantwortung gezogen. Doch eine Entschuldigung der Täter selbst blieb aus. Es sei der Befehl des Systems gewesen, sagen sie. Den Familien der Opfer bleibt nur die Trauer über sinnlose Taten und den Verlust geliebter Menschen.
Der Filmemacher Stefan Weinert gibt in seinem Dokumentarfilm Die Familie diesen Menschen eine Stimme. Neben vielen weiteren Zeitzeugen und Familienangehörigen der Opfer konzentriert er sich dabei vor allem auf den oben erwähnten Fall. Denn der Sohn des Getöteten kann nicht vergessen. Und vor allem nicht verstehen. Er will ein Gespräch, eine Begegnung mit dem Mann, der seinen Vater erschossen hat.
Trailer zu Die Familie
Weinert hält sich mit seinem Kommentar zurück, lässt die Betroffenen sprechen, zeigt Fakten auf, aber benutzt sie nie plakativ oder Effekt heischend. Die Geschichte, ihre Zahlen, Fakten und Statistiken, sprechen ihre eigene radikale Sprache. Umso wirkungsvoller ist der Eindruck auf den Zuschauer. Die Familie ist ein schmerzhafter und doch unermesslich wichtiger Einblick in die jüngste deutsch-deutsche Geschichte. Auch heute, mehr als ein Vierteljahrhundert nach ihrem Verlust, leiden die Hinterbliebenen noch an dem Trauma. Zu einem großen Teil auch deshalb, weil sie lange Zeit, in manchen Fällen bis heute, über die Umstände der Tötungen im Unklaren gelassen wurden, sodass sie keinen Abschluss und damit auch keinen Frieden finden konnten. Eine Frau weiß zum Beispiel immer noch nicht, wo die Leiche ihres Sohnes geblieben ist, eine andere versteht nicht, wie und warum ihr Ehemann damals an der Grenze ertrunken ist, eine dritte kann sich nicht mit der Bewährungsstrafe für den Mörder ihres Sohnes abfinden und spricht von ihren blutrünstigen Rachefantasien.
Stefan Weinert lässt sie vor der Kamera erzählen, er geht mit den Hinterbliebenen an die Schauplätze, begleitet sie bei der Einsicht in die Unterlagen der Stasi und hilft ihnen bei weiteren Recherchen. Der Film ist erschütternd, weil hier auf verschiedenen Ebenen Zeugnis abgelegt wird. So werden die Aussagen der Betroffenen oft in Kontrast zu den entsprechenden Formulierungen in den Stasiakten gesetzt, deren kaltes Bürokratendeutsch in diesem Kontext noch unerträglicher als gewöhnlich ist. Weinerts Protagonisten lassen zu, dass er sie in für sie sehr schmerzhaften Situationen filmt, wobei er ihnen sehr nahe kommt, aber sie nie in ihrem Leid ausstellt.
Prädikat: besonders wertvoll
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung