Bewertung: 4 / 5
Christopher Nolan ist seit jeher ein großer "James Bond"-Fan, schon "Inception" war als Heist-Actionthriller spielend an exotischen Orten maßgeblich von "James Bond" beeinflusst. Eienen Bond-Film zu drehen, war Nolan in den 2010er Jahren nicht vergönnt, vielleicht wollte er auch nicht in die Craig-Reihe eingreifen, zumal er sich ohnehin der Reihe und dem Handlungsbogen hätte unterordnen müssen. Jedenfalls scheint ihn diese Sehnsucht nach "Inception" ein weiteres Mal und diesmal noch stärker befallen zu haben, denn mit "Tenet" drehte Nolan nun tatsächlich einen - spanneneden und eindrucksvollen - Spionage-Actionthriller, der theoretisch auch als Bond-Film durchgehen könnte, würde man die Namen und Bezeichnungen austauschen.
John David Washington spielt quasi James Bond, einen charmanten und humoristischen Geheimagenten, der die Welt retten muss. Kenneth Branagh tritt als russischer, reicher Antagonist mit extravagantem Weltvernichtungsplan auf (sein mimisches Spiel gerät leider zu überstilisiert schurkisch, die deutsche Synchro mit übertriebenem russischen Akzent ist furchtbar). Elizabeth Debicki verköpert das "Bond-Girl", welches mit dem Antagonisten liiert ist, von ihm unterdrückt wird und dann mit dem Geheimagenten anbandelt (bei Nolan natürlich ohne Sexualität und Erotik). Robert Pattinson gibt den externen Komplizen analog zu Felix Leiter, der dem Agenten tatkräftig zur Seite steht und diesen mit Informationen versorgt. Die Figuren, Figurenkonstellationen und das grobe Plotgerüst sind die gleichen wie in einem Bond-Film.
Trailer zu Tenet
Ab hier Spoiler:
Nolan ist aber nicht an einem einfachen Spionage-Actionthriller gelegen, sondern reichert "Tenet" mit einigen moralischen und nachdenklich stimmenden Twists an. Formal und stilistisch begreift sich "Tenet" klar als "Inception 2.0", inhaltlich entwirft der Film aber mehr ein Alternativszenario zu "Interstellar". In beiden Filmen befindet sich die Erde in der Klimawandel-Endzeit, in "Interstellar" ist die Raumfahrt so weit fortgeschritten, dass die Menschheit das eigene Überleben und die Zukunft sichern kann, indem sie eine Raumreise antritt. In "Tenet" exisitert eine solche Raumfahrttechnologie nicht, die Menschheit bleibt gebunden an den sterbenden Planeten Erde. Wohl aber existiert hier die Technologie, die Materie der Entropie umzukehren und sich somit zeitumgekehrt fortzubewegen - eine Zeitreise anzutreten. Das Überleben des Planeten und der Menschheit, ihre Zukunft, liegt in "Tenet" also in der Vergangenheit.
Dementsprechend arbeitet eine abstrakt gehaltene Organisation in der Zukunft daran, die gesamtheitliche Entropie des Universums zu invertieren, sodass sich nicht nur einzelne Objekte sondern auch die Erde und das Sonnensystem zeitumgekehrt bewegen. Der Twist an der Sache: Die Zeitinvertierung würde die Gegenwart der normalen Zeit auslöschen. Aber ehrlich gesagt, wer kann der zukünftigen Menschheit diesen Schritt verübeln? Es ist ein existentieller Kampf der Menschheit, ausgefochten zwischen der Kindergeneration und deren Eltern- und Großelterngenerationen (verdeutlicht durch das Großvater-Paradoxon), ausgelöst durch die Taten und die Untätigkeit der letzteren. Aus heutiger Sicht mag das schwer vorstellbar sein und albern wirken, wie oft wird zum Beispiel Fridays For Future mit Spott und Belächelung begegnet? Aber wehe dem, die klimabewusste Junggeneration der späten 2010er und 2020er Jahre würde über eine solche Macht verfügen wie in "Tenet"! Das würde so einige Angehörige der Altgenerationen voller Tatendrang aus ihren Löchern treiben.
An diese Gesellschaftskritik geknüpft ist der gegenwärtige Antagonist Andrei Sator, der von der Zukunftsorganisation angeheuert wurde. Ein Mann, der die Zeichen der Zeit pessimistisch deutet und den Glauben an die Menschheit verloren hat (siehe auch Paul Schraders "First Reformed"). Aufgewachsen in der Sowjetunion und die Schrecken eines potentiellen, nuklearen Holocausts am eigenen Leib miterlebt, blickt er nun der Klimakatastrophe entgegen und hält es für eine Sünde, ein Kind in diese dem Ende zugehende Welt gesetzt zu haben. Unheilbar erkrankt am Bauchspeicheldrüsenkrebs, möchte er seinem Tod wenigstens einen Sinn geben, durch seinen Tod das Leben und das Überleben der (zukünftigen) Menschheit sicherstellen. Auch hier stellt sich die Frage, wer kann es ihm verübeln? Ein Antagonist, zu dem man fast mehr Sympathien hegt als zum eigentlichen Protagonisten, auch in Bond-Filmen eine Seltenheit.
Anhand der Beziehung zwischen Andrei Sator und seiner ihm entfremdeten Ehefrau Kat (Debicki) kreiert Nolan passend zum Überthema des Films eine Invertierung der Beziehung zwischen Cobb und Mal in "Inception". In "Tenet" ist es nicht der Ehemann sondern die Ehefrau, die sich ein sicheres und freies Leben mit ihrem Kind wünscht und alles dafür tut, während der Ehemann dann den manischen, antagonistischen Gegenpart darstellt.
Nolan wird immer wieder vorgeworfen, den Plot seiner Filme zu verkomplizieren und verwirrend mit Handlungsebenen und Zeitschleifen herumzuspielen, aber gerade in "Tenet" fungiert das als aussagekräftige Metapher im Kontext des Krieges. Die großen Kriege des 20. und 21. Jahrhunderts waren und sind stets geprägt von neuartiger, unbekannter Kriegstechnologie und Strategie, von Überforderung und Unverständnis. Maschinengewehre, Panzer, Flugzeuge, U-Boote, Stacheldraht, Giftgas, Nuklearwaffen, Napalmbomben, Information und Datenverarbeitung, Massenarmeen, Weltkriege und selbst das Dschungel- oder Bergterrain in Vietnam bzw. Afghanistan. In "Tenet" ist es nun die Zeitinvertierung, die zu Kriegszwecken verwendet wird, und durch die Augen des protagonistischen Geheimagenten trifft das auch den Zuschauer vollkommen unvorbereitet und man versteht die Funktionsweise und das Ausmaß der Technologie und des Krieges erst nach und nach. Wie im 20. Jahrhundert muss der Krieg auch im 21. Jahrhundert jedes Mal erst neu erlernt werden. Über welchen Vernichtungsgrad die Zeitinvertierung verfügt und welche Verantwortung die Forschung dabei trägt, arbeitet "Tenet" darüberhinaus durch einen - seehr überdeutlichen - Vergleich mit Oppenheimer und der Atombombe heraus.
Auch wenn in "Tenet" die Zeitfluktuation dominiert, scheint der Film doch in einer Sache aus der Zeit gefallen zu sein und stillzustehen. Es mag eventuell Nolans Bond-Faible entsprungen sein, aber es ist schon auffällig, dass sich hier ein protagonistischer CIA-Agent und ein antagonistischer, russischer Oligarch gegenüberstehen. Für mich wirft dieses Szenario im Kontext des durch die Zeitinvertierung stetig im Wandel befindenen Geschehens einen bitteren Blick auf das 21. Jahrhundert. Die Welt verändert sich rasend schnell und der kalte Krieg ist seit 30 Jahren beendet, der Eiserne Vorhang besteht heutzutage gewisserweise aber weiterhin. "West" und "Ost" stehen sich immer noch misstrauisch und gefühlt verfeindet gegenüber, erst recht verstärkt im Hinblick auf die letzten paar Jahre.
Drei Anmerkungen zum Filmischen: Nolan beweist für mich abermals, dass er Action eben doch kann, insbesondere im Kino ein Augenschmaus. Ludwig Göransson ("Creed", "Black Panther") ersetzt hier Hans Zimmer als Komponist, aber anstatt etwas Eigenes zu kreieren, eifert er Zimmer nach, ohne dessen Qualität wirklich zu erreichen. Der Filmmusikeinsatz ist des Öfteren unpassend, Dialoge werden überdeckt, in ruhigen Drama- und Charakterszenen wird Bombastmusik eingespielt.
Fazit: Aus meiner Sicht bleibt der Umstand bestehen, dass Nolan noch keinen schlechten Film gedreht hat, der nächste kann kommen! Gegen einen neuen Mysteryfilm der Marke "Prestige" oder Hard-Science-Fiction-Film der Marke "Interstellar" hätte ich nichts einzuwenden. Oder wie wäre es mal mit einem Horrorfilm?