Bewertung: 3 / 5
Tik tok ... tik tok ... tik tok: Quo Vadis Watchmen?
„NOTHING EVER ENDS!“ tönte der übermächtige Dr. Manhattan einst voller Inbrunst. Und er behält recht: Eines der definierenden Phänomene des Superheldengenres kehrte 2020 als limitiertes Serienereignis zurück. Wie überführt man ein so denkwürdiges Erbe in die Gegenwart? Was hat man über den aktuellen Zeitgeist mitzuteilen? Gelingt Lindelof mit dieser Serie der ganz große Wurf? Auf diese und andere drängende Fragen soll mein Review Antworten geben ...
Trailer zu Watchmen
Zuvorderst gilt zu klären, für wen die HBO-Produktion zumindest potenziell von Interesse ist. Ohne große Umschweife lässt sich festhalten: die Serie Watchmen richtet sich kompromisslos an Fans und Kenner des Originalcomicwerkes von 1986. In Sachen Verständlichkeit halte ich eine Sichtung der Serie ohne entsprechendes Wissen für ein ebenso spaßbefreites wie sinnloses Unterfangen. Hilfreich ist die vorhergehende Lektüre auch, um die korrekte Einordnung der nihilistischen Stimmung der Serie vornehmen zu können und den allgemeinen Stellenwert zu verstehen, den das Phänomen Watchmen auf die Populärkultur nach wie vor besitzt.
Für Ungeduldige geht das aber auch im Schnelldurchlauf: auch wenn Zack Snyders Watchmen weniger eindringlich die für den Comic wichtigen Nuancen zu vermitteln imstande ist, halte ich diesen aufgrund seiner größtenteils sklavisch-akkuraten Umsetzung dennoch für einen dankbaren und niedrigschwelligen Einstiegspunkt, um mit der Serie fortfahren zu können. (Man beachte unter anderem das reichhaltige Filmreview des Users "MB80" und die zugehörigen Diskussionsbeiträge)
Um Interessierten einen niedrigschwelligen Einstieg in HBO´s Antihelden-Serie zu bieten und darüber hinaus für Kenner zusätzlichen Nährboden für eine kritische Einordnung zu generieren, verfolgt meine Argumentation einen zweigeteilten Ansatz. Der erste Abschnitt hält eine allgemeinere Serienkritik bereit, die die Prämisse der Serie kurz zusammenfasst, um sich folglich den filmästhetischen Mitteln und schauspielerischen Leistungen zu widmen. Der zweite Abschnitt stellt eine spezifisch-kritische Auseinandersetzung mit den Motiven der Serie dar und versucht sie sowohl im Kontext des Watchmen-Universums als auch anhand der realpolitischen Verhältnissen zu verorten. Wie bei jeder Kritik gilt: weder ist Vollständigkeit möglich, noch wird diese angestrebt. In diesem Sinne freue ich mich gegebenenfalls auf eine gleichermaßen konstruktive wie spannende Diskussion…
Ich möchte eine ausdrückliche Spoiler-Warnung an jene Menschen aussprechen, die mit der Vorlage nicht vertraut sind. Sofern sinnvoll, werde ich an einzelnen Stellen auf Spoilertags zurückgreifen bzw. möchte ich darauf hinweisen, dass ab der Erläuterung der Grundprämisse für uneingeweihte Zuschauer empfohlen wird, die Besprechung nicht weiter zu verfolgen. Die Prämisse des Originalcomics und des zugehörigen Kinofilms wird notwendigerweise sogleich gespoilert.
Abschnitt 1:
Persönlicher Zugang
Ich selbst habe Alan Moores Magnum Opus Watchmen wenigstens zweimal gelesen und die filmische Adaption von Zack Snyder aus dem Jahr 2009 mehrmals in allen erhältlichen Schnittfassungen angesehen. Wissenslücken für den Seriengenuss ergeben sich bei mir insofern, dass ich die 2012 erschienene Comic-Reihe Before Watchmen nicht gelesen habe. Wie ich erfahren habe, wurden daraus einige Anleihen für die Serie verwendet. In meinen Augen stellt das jedoch kein Problem dar, da entsprechende Referenzen daran mehr als ausreichend plausibilisiert werden.
Für Menschen, die ausschließlich mit dem Film vertraut sind, sei gesagt, dass der Comicband den Leser am Ende zwar mit einer ähnlich hohen Todeszahl von Unschuldigen verstört, der exakte Hergang jedoch different vollzogen wurde. Auch hier ist, wer hätte es anders vermutet, Adrian Veidt altruistischer Held und Übeltäter in einer Person. Allerdings nutzt er dafür nicht den übermenschlichen, aber dennoch unschuldigen Dr. Manhattan, sondern fingiert in kongenialer Weise eine extraterrestrische Bedrohung.
Ausgangslage der Serie
Wir schreiben das Jahr 2019. Ganze 34 Jahre sind seit den verheerenden Ereignissen der originalen Watchmen-Story vergangen. Wir erinnern uns: Ex-Superheld und Multimilliardär Adrian Veidt alias „Ozymandias“ hat über 3 Millionen US-Bürgern mit einem gigantischen Tintenfisch das Leben ausgehaucht, um sein pazifistisch motiviertes Lügengebilde zu erschaffen. Seit diesen Begebenheiten scheint sich die Menschheit auf globaler Ebene besser denn je miteinander zu arrangieren, allerdings ist die Wurzel des Hasses nach wie vor intakt. Wir kennen diese Wurzel besser unter dem Namen Rassismus.
Seit nunmehr 26 Jahren regiert Präsident Robert Redford (ja, genau der!) das Land der Freien mit eiserner Faust. Demgegenüber treibt das rechtsextremistische Bündnis der „Siebten Kavallerie“ mit rassistischen und antiautoritären Anschlägen auf die US-Bevölkerung sowie der Staatsgewalt sein Unwesen. So gab es 2016 in Tulsa ein Pogrom gegen Polizisten durch rechtsextreme Konservative. Derartig radikalen Handlungen versucht die Polizei der Stadt Tulsa im US-Bundesstaat Oklahoma seit 3 Jahren erfolglos Einhalt zu gebieten. Die Mittel der Verbrechensbekämpfung haben sich dabei radikal gewandelt: wohin man blicken mag, sollen maskierte Gesetzesvertreter für den Schutz der amerikanischen Bevölkerung sorgen. Die Verkleidungen dienen nicht nur dem symbolischen Durchsetzungsvermögen des Gesetzes, sondern auch dem Identitätsschutz der verkörpernden Kräfte. Eine solche Person ist die afro-vietnamesische Hauptprotagonistin Angela Abar alias „Sister Night“ (Regina King). Ihre Geheimidentität ist die einer friedfertigen Bäckereibesitzerin und liebenden Ehefrau von 3 Kindern. Im Zuge des aussichtslosen Kampfes gegen die rassistische Kavallerie muss sie erleben, wie ihr Freund und Vorgesetzter Judd Crawford (Don Johnson) erhängt wird.
Erneut gilt es, für das Fortbestehen des amerikanischen Bündnisses und der Erde einzustehen, indem die Machenschaften eines größeren, schwelenden Komplotts aufgedeckt und verhindert werden. In 9 Episoden mit einer Gesamtlaufzeit von fast 9 Stunden versucht das Team um Showrunner Damon Lindelof, seinen Fußabdruck im Watchmen-Universum zu hinterlassen und schildert unter anderem, was es mit nach wie vor regnenden Tintenfischen, bewusstseinsveränderndem Drogenkonsum, einer extremistischen Oligarchin und dem Initiator der ersten Superheldentruppe um die Minutemen auf sich hat. Erwartungsgemäß kommt dabei natürlich auch das ein oder andere vertraute Gesicht zum Vorschein …
Was wäre Watchmen ohne seine (Anti-)Helden?
Allen voran Regina King als Hauptprotagonistin Angela Abar alias Sister Night lieferte eine großartige Perfomance ab. Zutiefst menschliche Gefühle wie Wut, Trauer, Liebe oder Verwirrung weiß sie ohne pathetische Überkompensation miteinander in Einklang zu bringen. Ihre Rolle stellt obendrein einen interessanten Gegenpol zu den ehemaligen Helden des Comics dar, weil sie emotional und moralisch stabil ist und ihrer Intuition vertrauen scheint. Insbesondere ist ihrer Figur überaus wenig an ihrer Selbstinszenierung als Heldin gelegen. Wahrlich, diese Heldin IST das blutig pochende Herz der Serie.
Demgegenüber transportiert der Alte im Rollstuhl mit Namen William „Will“ Reeves (Louis Gossett Jr.) den mysteriösen Vibe des Antihelden-Universums außerordentlich wirkungsvoll und erfrischend. Die Art und Weise, wie seine bewegende Geschichte in einfallsreichen Rückblenden inszeniert wird, verdient ebensolche Anerkennung wie das Schauspiel Kings.
Jeremy Irons legt als sträflich missachteter Adrian Veidt aka Ozymandias eine sichtliche Spielfreude für die Rolle an den Tag. Durch sein gleichermaßen großspurig arrogantes wie eloquentes Auftreten mimt er den Narzissten in gekonnt charmanter Art und Weise und verleiht ihm eine ungeheure Klasse (der O-Ton lohnt sich bei ihm wohl am allermeisten). Weshalb Veidt abseits des von ihm so geliebten Medienrummels auf einem altenglisch anmutenden Landgut mitsamt prunkvollen Mittelalterschloss residiert, ist eines der großen Mysterien der Serie.
Demgegenüber bietet die Inszenierung Dr. Manhattans durch den Schauspieler Yahya Abdul-Mateen II deutlich größere Angriffspunkte für Kritik. Für mein Empfinden kristallisiert sich in der Herangehensweise an eine der zentralen Figuren des Originalbuches die komplette Ratlosigkeit, was genau mit ihr charakterlich noch anzustellen ist. Sie zeugt sogar von der Fehlinterpretation von Dr. Manhattans Charaktereigenschaften und Fähigkeiten. Zugegebenermaßen ist es schwer, eine Figur noch weiter zu skizzieren, die sich von unseren Verhaltensweisen und Vorstellungsvermögen moralisch wie intellektuell distinguiert. Wem diese Kritik zu kleinteilig erscheint, dem muss entgegenhalten werden, dass man die Figur derart präsent im Zentrum der neuen Handlung platziert hat, dass die Schwächen des Drehbuchs leider vehement zutage treten. Es fällt also schwer, diese einfach zu ignorieren.
Auch die neuen Antagonisten sind hinsichtlich ihrer unterkomplexen Motivationen und wegen teilweisem Overacting zu kritisieren. So erscheinen diese weitestgehend blutleer und bieten keinen tieferen moralischen Gehalt, als dass sie ihre Gottkomplexe ausleben wollen. Nicht nur wusste das der ursprüngliche Comic geschickter zu kaschieren, sondern es fällt bei dem so vielseitigen Ensemble äußerst störend auf, weil die Geschichte durch ihre zahlreichen Wendungen größeres verspricht.
Zu guter Letzt möchte ich noch auf die seltsam vertraute Figur des Verhörexperten Wade Tillman aka Looking Glass/Mirror Guy (Tim Blake Nelson) eingehen. Er ist eine Art Projektionsfläche für die innerhalb der Haupthandlung bereits verstorbene Figur des Walter Joseph Kovacs (besser bekannt als Rorschach). Die Analogie wird nicht nur durch sein äußeres Erscheinungsbild betont, sondern darüber hinaus durch seine manische wie radikale Haltung offensichtlich, die sich dem Ziel der rücksichtslosen Verbrechensbekämpfung verschreibt. Die für Rorschach typisch pessimistisch-nihilistische Grundhaltung rundet seine Persona ab. Auch wenn Wilson einige ironische Dämpfer durch eine zum Fall herangezogene FBI-Agentin mit komödiantischem Gespür erfährt, erschreckt die Mutlosigkeit, mit der hier schablonenhaft die Eigenheiten von Rorschach nachempfunden werden. Das zeugt von einem Ausverkauf an Kreativität, weil man sich das Phänomen Watchmen ohne diese Figur wohl nicht anders erklären möchte. Glücklicherweise bleibt dem Zuschauer ein Äquivalent zum Comedian erspart.
Problembehafteter Fanservice
Natürlich kommt die Serie nicht ohne zahlreiche Anspielungen an die originale Geschichte daher. Viele der Referenzen werden leider nur dafür benutzt, um das Gefühl bei den Zuschauenden zu erwecken, dass es sich um einen Beitrag für das Watchmen-Universum handelt. Den Reminiszenzen fehlt damit jegliche erzählerische Schlagkraft abseits ihres ikonischen Wiedererkennungswertes. Wenn etwa der angesprochene Wade Tillman in Rorschach-Manier gierig kalte Bohnen direkt aus der Dose löffelt, Adrian Veidt mal wieder pfeilschnell eine Kugel mit der Hand auffängt oder Dr. Manhattan in ausschweifender Weise über sein Lieblingsthema zeitliche Wahrnehmung reflektiert, dann besitzt das zwar Anziehungskraft, bietet aber substanziell wenig Neues. Wie toll hätte es etwa gepasst, wenn Dr. Manhattan über die scheinbar unüberwindbare Ungerechtigkeit in der Welt oder Rassismus im Speziellen gesprochen hätte? Das wäre deutlich geschickter gewesen, um das Handlungszentrum der Geschichte zu umreißen und zum aktuellen politischen Klima etwas Tiefgründiges beizutragen. Die Frage, die sich die Serie gefallen lassen muss: „Wofür tut man das?“ Kenner und Fans der Originalvorlage werden nickend dasitzen und können quasi mit einer gedanklichen Checkliste bewaffnet die Referenzen an den Paten abhaken. Dieser Ballast raubt ein wenig der anarchischen Originalität, für die Moores Werk geschätzt wurde und verstellt den Blick auf die spannende Geschichte. (Das ist jedoch eher ein grundsätzlicher Trend, der bei zahlreichen Comicumsetzungen und Filmuniversen zu beobachten ist.) Trotz dieser Referenzen werden Fans des Originals auf eine harte Probe gestellt, denn thematisch wie inszenatorisch weiß die Serie durchaus zu polarisieren.
Sind deshalb aber gleich alle inszenatorischen Kniffe wirkungslos? Keinesfalls. Wurden etwa im Originalcomic Piratengeschichten wie die „Tales of the Black Freighter“ gelesen, wird ein solcher Erzählstrang innerhalb der Serie durch filmeigene Mittel adressiert. Statt eine Comicgeschichte im Comic zu präsentieren, wird die Gründung der Minutemen als filmisches Ereignis namens „An American Hero Story“ innerhalb des Handlungsraumes ausgegeben. In kurzen Filmschnipseln wird so die fehlgeleitete Interpretation der Hergänge um die Ursprünge der Heldentruppe bearbeitet. Damit beweist das Kreativteam um Lindelof, dass es gekonnt mit Referenzen der Originalvorlage umzugehen imstande ist, ohne auf filmeigene Stärken verzichten zu müssen. (Wie genial es doch gewesen wäre, hätte man den Film als Dreingabe ausgelagert.)
Die Kameraführung in den Actionsequenzen sowie der stilsichere Einsatz unterschiedlicher Farbsättigung und kreativer Perspektiven weiß definitiv zu gefallen. Daneben setzt man HBO-typisch auf eindrucksvolle und kreative Setdesigns sowie eine allgemein hohe Effektqualität. Und auch musikalisch spielt die Serie groß auf: die angenehmen Mystery-Vibes werden insbesondere durch die treibend-elektronischen Töne der Kollaboration um Trent Reznor und Atticus Finch unterstrichen.
Abschnitt 2:
Intelligente Grundprämisse
Die Grundprämisse gestattet es weniger offensichtlich als Parabel auf das Superheldengenre interpretiert zu werden, sondern lässt vielmehr eine überbordende Geschichte des strukturellen Rassismus in den USA Revue passieren. Die Krux an der Sache ist dabei, dass Superhelden einen gehörigen Teil zur Identitätsbildung der amerikanischen Populärkultur beitrugen und beitragen. Schwarze Helden mit entsprechenden Identifikationspotentialen für die afro-amerikanische Bevölkerung nahmen dabei allerdings eher die Stellung einer Randnotiz ein. (Das ist glücklicherweise ein Umstand der sich in den letzten Jahren zunehmend ändert).
Warum bietet sich das Thema Rassismus speziell für das Watchmen-Universum überhaupt an? Zunächst wäre da natürlich die Reflexion über drängende politische Fragen und zeitgbezogene Probleme zu benennen. Das Originalwerk setzte sich dezidiert mit der Frage auseinander, über welche Strahlkraft verschiedene Superhelden-Archetypen im Kalten Krieg überhaupt noch verfügen. Wie können Superhelden dem Wahnsinn atomarer Aufrüstung von rivalisierenden politischen Lagern Einhalt gebieten? Die Antwort von Moores lautete schlicht und ergreifend: gar nicht. Die Helden mussten selbst zu wahnsinnigen Methoden greifen, um einen dauerhaften Akzent in der Welt setzen zu können.
Durch ihre alternierende Realitätsstruktur besitzt die Originalvorlage darüber hinaus einen reichhaltigen Nährboden, der weiterführende Auseinandersetzungen mit der weltpolitischen Bühne ermöglicht. Wie schon der Original-Comic verbindet das Drehbuch der Serie realhistorische und fiktionale Begebenheiten in virtuoser Manier zu einer neuralgischen Schaltzentrale für die vorliegende Handlung. Verheerende Stationen wie das Massaker von Tulsa oder die tragische Intervention in Vietnam verdeutlichen die nach wie vor grassierenden rassistischen Ressentiments der gutbürgerlichen Schichten in den USA und transzendieren so in mehrfacher Hinsicht das Rückgrat der Erzählung.
In der Originalstory ging etwa die USA aus dem Vietnamkrieg als Sieger hervor, sodass das Land zu einem US-amerikanischen Bundesstaat avancierte. Für das Thema Rassismus in der Serie Watchmen ist das deshalb von Relevanz, weil das Groß der in Vietnam stationierten GIs tatsächlich von der unterprivilegierten afroamerikanischen Community gestellt wurde. Zu allem Übel stand das in starkem Kontrast zur zeitgenössischen Bevölkerungsverteilung der USA: nicht einmal 12% der amerikanischen Bürger stellten insgesamt 40% der Soldaten. Diese Soldaten zeugten mitunter zahlreiche Nachkommen in den exotischen Gefilden, sodass sich eine neue Generation von Kindern der Ungleichbehandlung ausgesetzt sah und von den eigenen Landesleuten verstoßen wurde.
Eines ebenjener Kinder ist nun unsere Heldin Angela Abar. Inwiefern ihre persönliche Geschichte mit den großen Ereignissen US-amerikanischer Rassenkonflikte korrespondiert, ist eines der zentralen Mysterien der Serie. Trotz oder gerade wegen seiner Ambivalenz hinsichtlich der schwierigen Thematik ist das erzählerische Konstrukt höchst funktionabel gestaltet. Von Episode zu Episode wird ein Netzwerk aus Beziehungen und historischen Verflechtungen generiert, das sich erst am Ende vollständig offenbart. In ähnlich intelligenter Manier wie im Film „Get Out“ wird auf die Zuschreibung von Identität, Kostümierung und Hautfarbe angespielt. In Watchmen stellen Maskeraden das mächtigste Instrument dar, um einen Deckmantel für das eigene Weltbild zu erschaffen. Dabei vermittelt die zunächst undurchsichtige Erzählweise überzeugend die sträfliche Missachtung der Leiden der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA.
Es kommt selten vor, dass Serienautoren auf dem Wissen einer vertrauten Leserschaft aufbauen. Der kreative und kompromisslose Umgang mit der Welt von Watchmen anno 2019 muss anerkannt werden. Wie Lindelof und Co. hier eine weitestgehend vorlagengetreue Ausgangslage entwerfen und dem Watchmen-Universum gleichzeitig neue Facetten abverlangen, erzeugt unglaublich viel Spannung.
Worin genau liegt das Problem mit Dr. Manhattans Darstellung?
Als kindlicher Jonathan Osterman lernt er die Bedeutung der biblischen Geschichte von Adam und Eva kennen, um in der Zukunft jenen paradiesischen Zustand auf dem Jupitermond Europa in die Realität zu überführen. Bereits nach wenigen Jahren ist er allerdings von der Perfektion seines kreierten Lebens so gelangweilt, dass er mit der Hilfe von Adrian Veidt beschließt, sich von diesem abzuwenden und der Erde einen Besuch abzustatten.
Ein Wesen, das sich aufgrund seiner übermächtigen Kräfte und der damit einhergehenden Isolation langweilt, ist eigentlich alles andere als eine schlechte Idee, um sie erneut in die Irren menschlicher Gesellschaft zu inkludieren. Eigentlich. Denn Dr. Manhattan ist eben keine Persona mehr, sondern Ratio in Reinkultur. Der daraus resultierende Umgang mit der Figur wirkt insbesondere durch die Liebesgeschichte zu Angela Abar konstruiert und unglaubwürdig für ein gottgleiches Wesen. Den Status menschlicher Sehnsüchte hatte Dr. Manhattan nämlich längst überwunden. Selbst wenn davon ausgegangen wird, dass die beinahe 10-jährige Lähmung seiner Kräfte und die daraus resultierende Katastrophe ihn mit Glück erfüllt haben, konnte er das gar nicht erfassen. Er kann nicht keine Einsichten über etwas haben, das er nicht aktiv im Bewusstsein seiner Kräfte begleitet hat. Wie so oft muss die Liebe als erzählerisches Instrumentarium herhalten, um dem Plot eine Wendung zu geben, der rationalen Überlegungen kaum standhält. Der Sturz in einen freiwillig in Kauf genommenen ungewissen Dämmerschlaf, der für ihn letztlich mit dem eigenen Tod endet, kann keinesfalls von ihm willentlich intendiert gewesen sein. Auch wenn man davon ausgehen mag, dass er glückselig starb und seine Kräfte weitergeben wollte, in dem Wissen, dass es fähigere Personen für diese verheißungsvollen Mächte gibt, dann hätte er das ohne Umschweife bewerkstelligen können.
Bei der Kritik ist noch nicht einmal von dem pseudointellektuellen Versuch eines Foreshadowing die Rede, mit dem Dr. Manhattan ein biographisches Moment angedichtet wird, dass ihn dazu motiviert, selbst einmal Leben zu erschaffen. Die Vorausbestimmung des Ereignisses tilgt damit nämlich leider das geniale Zufallsmoment der originalen Story, mit der ein Nobody uneingeschränkte Macht erhält und diesen physisch wie psychisch transformiert. Es erscheint obendrein töricht anzunehmen, dass ein gottgleiches Wesen einen Anhaltspunkt dafür benötigt, Leben zu kreieren. Naturgemäß liegt das im Geltungs- und Handlungsbereich vollkommener Macht.
Blinder Angriff von links
Leider ergibt sich aus der überaus tiefsinnigen Grundprämisse manch gehörige Schieflage in Sachen Glaubwürdigkeit und themenbezogenen Anspruch. Beispielsweise spielen die Weltpolitik und ihre Verwicklungen trotz des hochpolitischen Themas eine überraschend untergeordnete Rolle. Speziell aber erscheint das militante Auftreten der Verbrechensbekämpfung fragwürdig. Wieso hat die Verbrechensbekämpfung nicht aus den undurchsichtigen Methoden der Minute- und Watchmen gelernt und weiß sich besser zur Wehr zu setzen als mit Masken? In Bezug auf die Glaubwürdigkeit scheint es logistisch betrachtet kaum haltbar, dass die Polizei von Tulsa ausschließlich aus maskierten Vigilanten besteht.
Wären diese kleineren Wehwehchen zu verschmerzen, krankt die Serie dann leider überaus bezeichnend an der wohl wichtigsten Ingredienz: der Inszenierung der (rechts-)radikalen Bösewichte. Tölpelhaft und dümmlich werden ihre Motivationen dargelegt. Sie besitzen keinerlei Tiefe abseits ihrer Allmachtsfantasien und werden von Anfang an als eine zu vernichtende Plage inszeniert. Dass der Bösewicht ein weißer, gutbürgerlich situierter republikanischer Senator ist, passt durchaus zum aktuellen politischen Klima der USA. Darüber hinaus wurde jene Figur des Joe Keene Jr. (James Wolk) schlüssig in die Welt Watchmens integriert, da sich dessen Vater für die erfolgreiche Verabschiedung eines Gesetzes zur Verfolgung maskierter Verbrechensbekämpfer auszeichnete.
Allerdings regte Watchmen einst auch zum Nachdenken über moralische Dilemmata-Situationen und Grauzonen an. Weil die Prämisse der Serie darauf fußt, ein Gefühl für die historisch gewachsene Ungerechtigkeit gegenüber der schwarzen Bevölkerung in den USA zu generieren, hat die Serie den rechten Sympathisanten nichts als blinde Wut entgegensetzen. Strategien der Rechtsextremen werden dabei jedoch stupide übernommen, ohne eine grundsätzliche Veränderung des Diskurses zu ermöglichen. Das Gewaltpendel schlägt dadurch lediglich in die andere Richtung aus. Wie etwa die Figur der superintelligenten, aber ohne ethischen Kompass ausgestatteten Lady Trieu (Hong Chau) beweist, werden rassistische Plattitüden dabei sogar bereitwillig reproduziert. Der Rassismus wird hier von der dunkelhäutigen landeseigenen Bevölkerung auf eine imperialistische Asiatin übertragen.
Über Fake News und die Beliebigkeit kultureller Gemeinplätze
Die Schaffung alternierender Wahrheiten avanciert zu einer gefährlichen gesellschaftlichen Grundlage, die innerhalb des Seriengefüges kaum bis gar nicht diskutabel erscheint. Explizit sei hier der pseudowissenschaftliche Faktor der Verbrechensbekämpfung zu nennen, die sich in brutalen Verhörmethoden und suggestiven Hypnosemethoden äußert. Die unbelehrbaren Nazis werden letztlich sogar im Vorbeigehen getötet, ohne sie dem Rechtsstaat zu überlassen. Ende gut, alles gut.
In einem Dialog wird etwa die Kreation von Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ im Handumdrehen gegen einen Hollywoodfilm des alternierenden Universums ausgetauscht, der sich der Alien-Katastrophe von 1985 widmet. Dabei berichtet eine Frau von einem zutiefst berührenden Film, der in einer ansonsten kargen schwarz/weiß-Optik daherkäme, wo ein kleines Mädchen in einem strahlend roten Kleid entlang hunderter toter Tintenfische, Hochhaustrümmer und der ihnen zum Opfer gefallenen Menschen liefe... Die Beiläufigkeit, mit der hier eines der ganz großen Werke der Filmgeschichte aus dem Universum Watchmens getilgt wird, erscheint geradezu pervers. Das ausschließlich imaginierte Leid des Alien-Anschlags wird genutzt, um ein fiktionales Werk, das die tatsächlichen Begebenheiten der Shoa in den Blickpunkt nimmt, zu ersetzen. Dass man ausgerechnet dieses Werk aus der Filmgeschichte des alternierenden Universums tilgt, obwohl die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges sich dort in ebenso verheerender Weise zugetragen haben dürften, zeigt, dass man die so bedeutsame Botschaft der zwischenmenschlichen Aufklärung und Versöhnung nur als Feigenblatt missbraucht, um eine weitere von vielen Allmachtsfantasien für Comicfans und Nerds zu schildern.
Die Beliebigkeit mit der in Watchmen tatsächliche und fiktionale Ereignisse gegeneinander aufgewogen, ausgetauscht oder sogar neu arrangiert werden, böte sich in der Tat für tiefgreifende Reflexionen über das Verhältnis der Menschen zur Wahrheit an. Doch im Falle von Lindelofs Handlungsbogen wird dieses Potenzial verkannt. Die Schrecken von Tulsa im Jahr 1921 sind wert in der Erzählung zu bleiben, die Ausmaße der Shoa wird durch die Tilgung von „Schindlers Liste“ zumindest fragwürdig. Vietnam avanciert im Sinne des Watchmen-Kanons zu einem Bundesstaat der USA, doch wie die Russische Föderation oder China auf diese Krise reagiert, ist nicht ersichtlich.
Das Be(s)tätigungsfeld der Neuen Rechten in Form von alternativen Wahrheiten gerät im Umfeld des Watchmen-Kosmos zu einem Stolperstein für Schilderungen über rassistische Unterdrückung. Wenngleich man dieses schwierige Terrain durchaus mit kreativen Einfällen hätte bewältigen können, entschloss man sich dazu, diesem problematisierungsbedürftigen Gesichtspunkt der originalen Story keinerlei Beachtung zu schenken. Wer nun sagt, dass das kein Problem der Serie sein könne, da die alternierende Zeitlinie bereits durch die Originalvorlage vorgegeben war und nur konsequent weitergedacht wurde, dem sage ich, dass der ursprüngliche Comic in einem gänzlich anderen Klima realisiert wurde. Ausschließlich dieses versuchte man in künstlerischer wie intellektueller Weise zu bewältigen. Als Mensch, der die damaligen Umbrüche in einer stilistisch aufwändigen und pointierten Antihelden-Parabel wortwörtlich zu maskieren versuchte, war sich Gibbons der problematischen Schlagkraft eines alternativen Zeitgeflechts und der möglichen Verkennung wissenschaftlicher Fakten nicht bewusst. Es ging ihm weder darum, sich über rassistische Tendenzen zu mokieren, noch konnte er die Blüten vorausahnen, die heutzutage im politischen Diskurs zu erspähen sind. Im Gegenzug können das die aktuellen Kreativen der Serie selbstverständlich. Eine Schilderung über derzeitig zunehmend aufkeimende rassistische Tendenzen muss sich selbstredend auch mit Fragen zu den Umständen befassen, wodurch dieses Weltbild vermehrt Zulauf erhält. Nur so kann eine Serie einen gehaltvollen Beitrag zum aktuellen Diskurs leisten. Da HBO und Lindelof die Umsetzung als einen solchen Beitrag zum aktuellen politischen Klima verstanden wissen möchten, sind für mein Befinden andere Maßstäbe anzuwenden als bei einem reinen Unterhaltungsprodukt. Das Buch war schließlich ebenfalls nie als ein bloßes Konsumprodukt gedacht und so muss man das Label auch ernstnehmen, wenn man es auf Biegen und Brechen verwerten möchte. Ansonsten gestaltet sich die Auseinandersetzung als bestenfalls prätentiös, eher aber noch als einfältig.
Da die Beweggründe für rassistische Tendenzen und Ideologien aber nicht von Interesse sind, erscheint es wiederum nur konsequent, dass die Menschen, die diese herabwürdigende Geisteshaltung besitzen, gar nicht mehr bekehrt, sondern vernichtet werden.
Fazit
Die Serie Watchmen ist ein explosives Potpourri aus zeitgenössischer Gesellschaftskritik und purem Trash. Zwar wirkt sie in ihrer opulenten Erscheinung angemessen hochwertig produziert, krankt aber an ihrer eigenen oberflächlichen Entwicklung eines zugegebenermaßen wendungsreichen und durchaus auch überraschenden Stoffes. Die intelligente Grundprämisse und ihre geschickte Portionierung des alternierenden Zeitstrangs wird von plakativen Redundanzen sowie den eindimensionalen Feindbildern und seiner selbstgefälligen Inszenierungsweise torpediert. Das Figurenensemble und ihr zugehöriges Schauspiel bewegt sich in einem weitmaschigen Rahmen und reicht von grandiosem Witz über solides Charakterspiel bis hin zu albernem Klamauk. Die anti-rassistische Botschaft stolpert so immer wieder über sich selbst. Das ist umso ärgerlicher, weil die Geschichte im Kern viele interessante Sichtweisen auf die politischen Gehalte der Rhetorik von Verhüllung und Entblößung offenbart. Auch hinsichtlich der gewählten Stilmittel und ihrer tiefschürfenden Ästhetik muss man diese Serie loben. Vom geschmackvollen Einsatz schwarz/weißer Szenen, über spannungsreiche Zeitlupen bis hin zur metareflexiven Agitation wird die Watchmen-Serie ihrem Comicvorbild mit filmeigenen Arrangements gerecht.
Der Löwenanteil der weltweiten Kritik durch Fans und professionellen Schreibern mag es anders sehen, doch bin ich der Ansicht, dass die Chance einer großartigen Erzählung zu Gunsten eines redundanten Weltrettungsplots mit Lovestory-Versüßung verschenkt wurde. Wie man anerkennen muss, gestaltet sich das Ganze aber zweifellos äußerst unterhaltsam.