++ Update vom 13.09.2022: Jean-Luc Godards Rechtsbeistand Patrick Jeanneret sagte der Nachrichtenagentur AFP, dass der Filmemacher in der Schweiz Beihilfe zum Suizid in Anspruch nahm. Laut ärztlichem Bericht sei er von "mehreren invalidisierenden Krankheiten betroffen" gewesen. Die Beihilfe zum Suizid ist in der Schweiz unter bestimmten Umständen legal.
*Im Falle suizidaler Gedanken möchten wir dazu ermuntern, Hilfe über die Telefonseelsorge in Anspruch zu nehmen. Die kostenlose Hotline 0800 111 0 111 bzw. 0800 111 0 222 ist Tag und Nacht erreichbar. Alternativ kann die Deutsche Depressionshilfe montags, dienstags und donnerstags von 13:00 bis 17:00 Uhr sowie mittwochs und freitags von 8.30 bis 12.30 Uhr unter 0800 / 33 44 533 kontaktiert werden.
++ News vom 13.09.2022: Rebell, Reformator, Sprachrohr - all das, und noch so viel mehr, war Jean-Luc Godard. Nun ist der französisch-schweizerische Intellektuelle im Alter von 91 Jahren abgetreten, doch sein mächtiges Werk wird niemals verblassen! Die französische Zeitung Liberation berichtete zuerst über die traurige Nachricht. Wiederum hat Deadline eine Bestätigung von einer Kontaktperson aus dem näheren Umfeld des Filmemachers erhalten.
BREAKING: Director Jean-Luc Godard, icon of French New Wave cinema, has died at age 91, according to media in France. https://t.co/418bCHD9Vm
— The Associated Press (@AP) September 13, 2022
Godards Radikalität, mit der er einst das Kino agitierte, ist legendär. Die scheinbare Leichtigkeit, mit der er sich durch die Filmgeschichte bewegte und imaginierte, ließ ihn zu einem Kronzeugen und Bildner der Kinokultur werden. In seiner mehr als fünfzig Jahre andauernden Karriere führte Godard bei fast 70 Spielfilmen, Dokumentarfilmen, Kurzfilmen und Fernseharbeiten Regie. Der umtriebige Filmkritiker, Regisseur und Lebemann wurde am 3. Dezember 1930 als Teil einer bürgerlichen Familie in Paris geboren. Er war ein umtriebiger Junge, der sich für vielfältige Aktivitäten wie Fußball, Skifahren oder Tennis begeistern konnte.
Das Abitur konnte Godard erst im dritten Anlauf meistern. Kurz darauf schrieb er sich an der Pariser Sorbonne ein. Sein Studienschwerpunkt der Ethnologie war von außerordentlichem Wert, um seine Karriere in Gang zu setzen, denn hier lernte er François Truffaut, Jacques Rivette und Éric Rohmer kennen und schätzen. Des Öfteren blieb der junge Godard den angestaubten Lesungssälen fern, um sich Richtung Kino zu bewegen und dort mehrere Filme hintereinander anzusehen. Sein selbsterklärtes Ziel war, dass er selbst einmal solche Werke realisieren könne, die es mit den anderen Künsten aufnehmen. Er wollte den exitenzialistischen Theorien Jean Paul-Sartres ein filmisches Monument schaffen.
Bereits im Alter von 21 Jahren schrieb Godard für die berühmt-berüchtigte französische Filmzeitschrift Cahiers du Cinema und leistete unter Gründerfigur André Bazin einen wesentlichen Beitrag für die Wahrnehmung von Filmen innerhalb der Gesellschaft. Diesem Auftrag schien er Zeit seines Lebens verpflichtet.
Für die Zeitschrift rezensierte er unter anderem Hitchcocks Der Fremde im Zug (1951) und schrieb einen Essay mit dem Titel "Defense and Illustration of Classical Découpage", der als Grundlage für seine kritischen Arbeiten der 1950er Jahre dienen sollte. Letztlich resultierte aus dieser Vorarbeit sein einflussreicher Artikel "Montage, My Fine Care" aus dem Jahr 1956.
Weniger rühmlich ist sein Rausschmiss aus dem Kollektiv der Cahiers du Cinema, weil er die Kasse geplündert hatte und sich mit dem Geld in die Schweiz absetzte. Die Neigung zum Diebstahl scheint für Godard kennzeichnend, da er auch Freunde, seinen Großvater und Cafébetriebe um ihr Eigentum brachte. Seine Rückkehr nach Paris im Jahr 1956 trieb in die Arme von 20th Century Fox, wo er zwei Jahre lang als Publizist arbeitete.
R.I.P. Jean-Luc Godard, Dead at 91. A life in pictures @guardianfilm https://t.co/R8C5h6pOlF
— Whit Stillman (@WhitStillman) September 13, 2022
Nachdem Godard in den Jahren zuvor bereits mit einigen Kurzfilmen glänzen konnte, lieferte er 1960 mit seinem ersten Spielfilm Außer Atem ein ebenso unkonventionelles wie faszinierendes Glanzstück ab, dass die Filmwelt nachhaltig veränderte. Ausgenommen von Orson Welles: Welcher Regisseur kann das mit seinem Debutfilm von sich behaupten?
Die Art und Weise, wie in diesem Film die stilistischen Mittel ausgereizt wurden und das Medium nicht mehr auf die fade Wiedergabe von Handlungsabläufen geworfen schien, kann nicht genügend gewürdigt werden. Die demonstrative Zurschaustellung eines radikal selbstbewussten Autorenfilmers ist in Außer Atem bereits komplett ausbuchstabiert. Mit Recht gewann dieser Meilenstein bei den Berliner Filmfestspielen den Silbernen Bären.
In Anbetracht dieser unbändigen Regieleistung ist es beinahe als Randnotiz zu bewerten, dass der im letzten Jahr ebenfalls verstorbene Jean-Paul Belmondo durch den im Paris angesiedelten Krimi zum Inbegriff der Coolness avancierte. Der durchschlagende Erfolg des Films läutete gemeinsam mit den Werken von Regiekollege Truffaut den Siegeszug der Nouvelle Vague ein. Es folgten ebenso schlagkräftige Werke wie Die Verachtung mit Sexsymbol Brigitte Bardot, Elf Uhr Nachts oder Weekend.
Sein Sci-Fi-Noir-Hybrid Lemmy Caution gegen Alpha 60, der gleichzeitig eine Untersuchung über Entmenschlichung und spirituelle Verzweiflung darstellt, nahm gewissermaßen einen Meilenstein wie Blade Runner vorweg. Er war außerdem ein erklärter Bewunderer der Rolling Stones, die er mit einem eigenen Dokumentarfilm namens Sympathy for the Devil bedachte.
Den späteren Godard kennzeichnet das kritische Denken über die erzählerischen Möglichkeiten und Grenzen des Kinos. In gewichtigen Dokumentarfilmbeiträgen wie Geschichte(n) des Kinos (1998) oder seinem 2018 veröffentlichten Werk Bildbuch fühlte er der Filmgeschichte auf den Zahn, indem er Material aus allerhand Werken mit eigenen Thesen und Gedanken miteinander ins Verhältnis zu setzen versuchte.
Godards wichtigster Beitrag zum Kino war seine Idee, dass ein Film sowohl die Geschichte ist, die er erzählt, als auch die Geschichte des Films selbst - wie er gemacht wurde und wie das Publikum ihn wahrnimmt. Vom Standpunkt klassischer Erzählmuster mögen seine Werke sperrig anmuten, doch wer einmal die nuancierten, pessimistischen und cleveren Strukturen von Godards filmischen Welten durchdrungen hat, ist mit ihnen unweigerlich verbandelt.
Seine legendäre Scharfzüngigkeit, die dunkle Sonnenbrille und die schweren Rauchschwaden, mit denen er sich stets schmückte, sind sowieso längst im kulturellen Gedächtnis des 20. und 21. Jahrhunderts eingegangen.
Jean-Luc Godard par William Klein. pic.twitter.com/mS9mXCuGUu
— Terreur Graphique (@TerreurGraphiQ) September 13, 2022
Lest auf Seite 2, welche Lücke das Nouvelle Vague-Schwergewicht hinterlässt.