Bewertung: 4.5 / 5
Hört man die ersten hitzigen Wortgefechte in Mike Leighs Dramödie "Life is sweet" könnte man meinen, der Titel sei ironisch. So zeugen die Konversationen innerhalb der Arbeiterfamilie von gegeneinandergerichteter Aggression, ja, fast von Bösartigkeit. Zwischen den verschiedenen Charaktertypen fliegen die Fetzen.
Doch wenn man denkt, Leigh habe nichts für seine Figuren übrig, täuscht man sich gewaltig. Das Gegenteil ist der Fall. So ist Leigh ein tief humanistischer Filmemacher und steht in der Tradition des britischen "social realism". Was sich eventuell kurzzeitig übertrieben anfühlt, offenbart sich schlicht als eine (in künstlerische Form gebrachte, vielleicht leicht übersteigerte) Beobachtung des normalen, wenn nicht gar banalen Lebens. Und je länger man zuhört und zusieht, desto mehr wachsen einem die Figuren ans Herz. Man beginnt deren Verhältnis und deren Handlungsweisen zu verstehen und lieben zu lernen. Man könnte es Hyperrealismus nennen, der den realistischen Ansatz dramaturgisch verstärkt, aber wahrhaftig bleibt. Wie ein Ken Loach schafft Leigh es dabei, soziale Themen und Missstände anzusprechen und den weniger privilegierten Bevölkerungsschichten Raum zu geben.Hinzu fügt er dem ganzen aber meist einen schrägen, schwarzhumorigen, mitunter auch satirischen, Touch. Einen Plot im gängigen Sinne sucht man vergeblich. Vielmehr präsentiert er einen Ausschnitt aus dem Leben seiner Protagonistinnen und Protagonisten, deren Verhältnisse und Interaktionen. Seine Vorgehensweise ist dabei beeindruckend. Im Mittelpunkt stehen die Figuren. Schon bei der Konzeption des Films arbeitet Leigh eng mit seinen Schauspielern. Aus der Grundidee heraus werden gemeinsam über Monate hinweg die Figuren entwickelt.
In der Improvisation mit dem restlichen Cast entstehen dann die Situationen und Dialoge. Ein Drehbuch gibt es im eigentlichen Sinne nicht.
In "Life is sweet" begleitet man das Paar Wendy und Andy und ihre Zwillingstöchter Nicola und Natalie.
Die vielen Jahre der Ehe spürt man deutlich im alltäglichen Umgang miteinander. Die beiden kennen sich, witzeln über ihre Marotten, schießen immer mal wieder gegeneinander und trotzen auf ihre jeweilige Art dem Trott des Alltags und des Erwachsenseins. Nebenbei macht die postpubertäre Nicola Schwierigkeiten. Auf der Suche nach sich selbst, ist sie ständig auf Konflikt aus und hat Probleme, sich einzufinden. Ganz im Gegensatz zu Ihrer Schwester, zu der sie auch in Konkurrenz steht. Im chaotische Familien-Alltag werden die vier zusätzlich auf Trab gehalten durch den Besuch einiger Bekannter.
Der Film sprüht vor Energie. Dabei stellt er die Eigenarten seiner Figuren heraus. Er schafft komplexe Charaktere mit vielen Macken, ohne sie zu je verurteilen. Ganz im Gegenteil. Stets mitfühlend und nachvollziehbar inszeniert, deckt er die Liebenswürdigkeit der Beteiligten unter der manchmal rauen Oberfläche auf. Leigh portraitiert liebevoll den Umgang mit Missständen, Unsicherheiten und Frustrationen im täglichen Leben. Das Menschsein in all seinen Facetten wird hier selbstverständlich miteinbezogen. In dem das, was zunächst für manche irritierend wirkt, letztlich als ganz natürlich angenommen wird. Ebenso eigenwillig sind die brillanten Dialoge, die richtig Spaß machen. Man lacht, man weint, während man kurzzeitg teilnimmt und diese Menschen kennenlernt.
Es ist ein empathischer, lebendiger und inklusiver Blick auf das Alltägliche, in dem gerade die Eigenarten die Menschen ausmachen. Abseits weichgespühltem Hochglanzkitsch. Dass der Regisseur auch weiß, Grenzen auszuloten, sieht man auch in seinem deutlich ungestümeren Folgewerk "Nackt".
Diese Kritik gilt auch stellvertretend für Mike Leigh, einen meiner Lieblingsregisseure, und sein Gesamtwerk, welche ebenso wie dieser Film nach Meinung dieses Schreibers deutlich mehr Aufmerksamkeit verdient.