Bewertung: 4.5 / 5
Soviel zum Netflix Algorithmus: Wir wollten einen seichten Gutelaunefilm für zwischendurch empfohlen kriegen und meine Frau blieb bei Systemsprenger hängen. Nun ist es zwar so, dass ich grundsätzlich keinen guten Film scheue, aber beim Thema Kind schon seit ein paar Jahren zurückhaltender geworden bin. Ich muss nicht stundenlang mit ansehen, wie Schlecht es Kindern geht oder wie ungerecht das Leben ihnen mitspielt. Mit Nobody Knows oder Beasts of the Southern Wild hatte ich meines Erachtens die Grenzen des für mich zumutbaren erreicht und überschritten. Natürlich hatte ich von Systemsprenger gehört, und daher warnte ich meine Frau, dass das ganz sicher nicht der Film ist, den wir gerade sehen wollen. " Lass uns mal kurz reinschauen, können ja jederzeit aufhören, wenn es so krass wird."
Wie mit dem Apfel und dem Paradies gab es allerdings keine Umkehr mehr!
Trailer zu Systemsprenger
Systemsprenger erzählt von einem neunjährigen Mädchen, das die Mutter nicht erzieht bekommt und daher in irgendwelchen Jugendpflegeinstitutionen unterkommt, doch sie ist so unkontrollierbar, dass es immer schlimmer um ihre Zukunft steht und das System komplett an seine Grenzen stößt. Es gibt in diesem fatalen nüchternen Film, der einen von der ersten Sekunde an in seinen Bann zieht, an den Eiern packt und nicht mehr loslässt, keinen einzigen Gewinner, nur Verlierer, und dem Film gelingt das Kunststück auch niemanden zu verteufeln. Jede Person hat irgendwo für sich genommen nachvollziehbare Motive, so dass man niemanden wirklich böse sein kann. Es ist zum Verzweifeln mit ansehen zu müssen, wie die (wenigen) engagierten Erzieher sich reinknien, von dem Mädchen geknackt werden und vor die Hunde gehen, es ist zum Haareraufen zu sehen, wie das Mädchen zwischen Resignation und Hoffnung bzgl. der immer stärker idealisierten Mutter in einen Strudel der Eskalation verfällt, und es irgendwie sehr nachvollziehbar, wie Mutter zwischen Angst, Verzweiflung, Hoffnung, Scham und Liebe oszilliert.
Der Film ist meisterhaft und teilweise berauschend umgesetzt, handwerklich muss man ihm gar nichts ankreiden, zwischen Sozialdrama, Melodram, sogar teilweise waschechtem Homeinvasion Horror der schlimmsten Sorte angesiedelt, setzt er sich doch nie wirklich zwischen die Stühle, sondern ist in seiner vermittelten Message so eine Wucht von Film, dass man ihm sogar sein unsicheres Ende verzeiht.
Das Ende ist insofern unsicher, dass der Film bis dahin ziemlich kompromisslos sein Ding durchzieht, nur am Ende fehlt ihm ein bisschen die Courage, es komplett durchzuziehen, hier spielt er verschiedene Alternativen durch, nur um Ende keines zu haben. Ein bisschen fehlt hier einerseits die Konsequenz andererseits weiß man von Anfang an, wie es ausgehen wird.
Systemsprenger ist ganz klar einer der besten Filme 2019, aber keiner den ich freiwillig geschaut hätte, und keiner den ich bedenkenlos empfehlen kann. Er ist hart, realistisch, böse, wütend, spannend, herzlich und hervorragend gespielt. Eigentlich ein fast perfekter Film, wenn es nicht um dieses Thema ginge. Da der Film nicht jedem zu empfehlen ist, tendiere ich zwar eher zu 8 Punkten, aber dafür ist er doch ganz klar viel zu stark.
Also: Trotz fehlendem Crowdpleaserbonus knüppelstarke 9 Punkte und die ganz klare Warnung, dass die Sichtung auf eigene Gefahr ist.