Bewertung: 4.5 / 5
INHALT
Die Dirigentin und Komponistin Lydia Tar (Cate Blanchett) steht kurz davor mit ihrem Orchester, den Berliner Philharmonikern, den Zyklus aus Mahlers Sinfonien zu vollenden und damit den Zenit ihrer künstlerischen Laufbahn zu erreichen. Während die Proben zur abschließenden 5. Sinfonie anlaufen, beginnt ihr Leben jedoch beruflich und privat zu erodieren.
Trailer zu Tár
KRITIK
Der Einstieg in den Film ist ausgesprochen dialoglastig und dabei ein Musterbeispiel für ökonomisches Erzählen, da fast alles Gesprochene der Charakterisierung bzw. dem Handlungsfortschritt dient. Während das Interview mit dem sich selbst spielenden Adam Gopnik die Hauptfigur etabliert, werden in dem Gespräch mit dem von Mark Strong dargestellten Mäzen und Möchtegern-Maestro bereits alle zentralen Handlungselemente in Position gebracht. Daneben sind beide wie so ziemlich alle Dialoge des Films noch mit zahlreichen auf den ersten Blick nicht handlungsrelevanten Bonmots zur Musikgeschichte bzw. der Kunst im allgemeinen angereichert, die letztendlich eine tiefere Bedeutung haben und spätere Entwicklungen andeuten.
Während verschiedene Genre-Einflüsse zu erkennen sind, ist "Tar" in erster Linie das Psychogramm seiner Hauptfigur, womit er naturgemäß der Hauptdarstellerin eine große Bühne gibt, um zu glänzen. Wenig überraschend nutzt die aktuell wohl beste Schauspielerin der Welt diese für eine Performance, die es mit ähnlichen Porträts zumeist männlicher larger-than-life-Charaktere wie Daniel Plainview aufnehmen kann und allein schon das Eintrittsgeld wert ist.
Inszenatorisch sind neben einem ausgeklügelten Sounddesign die langen Kameraeinstellungen hervorzuheben. Während solche ungeschnittenen Takes bei den meisten Regisseuren und Kameraleuten häufig etwas Ausgestelltes, geradezu Angeberisches haben, sind sie hier so subtil, dass sie als solche kaum auffallen, ihre Wirkung aber dennoch entfalten. Ein perfektes Beispiel ist die rund zehnminütige Szene in der Juilliard School, die statt durch elaborierte Kamerabewegungen mehr durch ihre meisterhafte Bildkomposition besticht, die klar umreißt, wie sich das Verhältnis zwischen Lydia Tar und dem Studenten im Diskursverlauf ändert.
Die Szene ist daneben natürlich auch zentral für die inhaltlichen Aussage. Es wird nicht ganz klar, ob sich "Tar" hier mit der Position seiner Protagonistin gemein macht und ihr die Zuschauer zustimmen sollen. Im späteren Verlauf wird Field dann noch mehrfach inhaltliche Widerhaken einbauen, die eine wie auch immer dazu gefasste Meinung nicht mehr so eindeutig erscheinen lassen.
Was den Film groß macht ist daher, wie er einen aktuell relevanten Diskurs aufgreift ohne dem Zuschauer eine Position dazu aufzudrängen. Während zu viele Filmemacher in letzter Zeit dem Publikum die Antworten vorgeben, wird es hier gezwungen, sich selbst mit den Fragen, die das Werk aufwirft, auseinanderzusetzen.
Diese Ambivalenz führt dazu, dass beide entgegengesetzte Enden des Spektrums des herrschenden Kulturkriegs "Tar" als Bestätigung ihrer Weltsicht interpretieren können und damit doch so grundfalsch liegen. Der Film will dieses Schwarzweißdenken eben nicht bedienen, sondern zeigen, dass die Realität zu widersprüchlich ist, um sie in vorgefertigte Schablonen von falsch und korrekt einzuordnen.
EPILOG
Todd Fields Film gibt einem viele Deutungsmöglichkeiten an die Hand und alle kann man bei einer einmaligen Sichtung unmöglich erfassen, so dass sich bei jeder weiteren mit Sicherheit neue Perspektiven eröffnen dürften. So ist es durchaus möglich, dass wir ab einem bestimmten Zeitpunkt die Realität verlassen und sich alles nur noch in Tars Einbildung abspielt, auch für ein Komplott zwischen ihrer Assistentin und der ehemaligen Schülerin kann man Anhaltspunkte finden. Während ich solchen Interpretationsansätzen bei anderen Filmen durchaus nicht abgeneigt bin, finde ich sie im Falle von "Tar" nicht so spannend wie die inhaltlichen Fragen, die ich andeutungsweise angerissen habe. Das Schöne ist aber, dass sich hier jeder die Aspekte herauspicken kann, denen er am meisten abgewinnen kann. Voraussetzung dafür ist jedoch die Bereitschaft, eigene Denkarbeit zu verrichten.