Wenn ich beispielsweise im Vorfeld von Richard Linklaters in jahrelanger Kleinstarbeit gedrehtem Boyhood nicht gewusst hätte, dass der dahinterstehende Cast um Ellar Coltrane, Patricia Arquette und Ethan Hawke tatsächlich beim Dreh des Films mitgewachsen sind, wodurch diesem eine quasi-dokumentarische Aura des Vergänglichen im Sinne eines Slice-of-Life-Konzepts anhaftet, hätte ich diesen Aspekt womöglich gar nicht bei meinem Erstkontakt einzuordnen und zu würdigen gewusst. Der Blick hat sich damit freilich akzentuiert, doch ich frage mich ernsthaft, ob das etwas Schlechtes bedeuten muss.
Wenn ich beispielsweise über die beiden Kill Bill-Filme vor dem ersten Sehen lesen würde, dass sie als Gesamtkonzept angedacht sind, die gemäß der Prämisse "Eastern meets Western" gestaltet wurden und dass Beatrix Kiddo (Uma Thurman ) am Ende siegreich von Dannen zieht, indem sie Bills (David Carradine) Herz mit einer geheimen Kampftechnik zum Implodieren bringt, dann weiß ich trotzdem nicht, welch unglaublich mitreißende Dialoge und überdrehte Action-Szenen mich dort erwarten.
Der finale Triumph in einem von Rache angetriebenen Genre-Mix ist wohl kaum der Rede wert, schließlich handelt es sich um ein filmisches Produkt und ein Mann wie Quentin Tarantino bedient nun einmal genauso gern bekannte Erzählmuster wie er sie unterwandert.
Beim aktuell laufenden John Wick - Kapitel 4 wusste ich etwa auch schon, dass es eine atemberaubende "Top-Down-Sequenz" gibt, die durch die gewählte Ästhetik an Videospiele wie die frühen Grand Theft Auto-Ableger oder Hotline Miami 1 und 2 erinnert. Dieses Wissen konnte aber unmöglich das treibende Gefühl trüben, dass ich bei Anbetracht der überaus cleveren Perspektivierung verspürte. Diese Stelle im Film hat mich genauso weggefegt, wie Mr. Wick (Keanu Reeves) seine Widersacher mit der Dragonfire-Shotgun und ich habe mich gefragt: "Warum kamen so wenige andere Leute im Filmbusiness bisher auf diese einfache, aber wirkungsvolle Idee?"
Da fällt mir sogleich noch Ad Astra - Zu den Sternen ein, der mir im Vorfeld als "Apocalypse Now in Space" schmackhaft gemacht wurde und dessen Blu-Ray-Disk erst vor kurzem in meinem Player rotierte. Ich hatte dementsprechend hohe Erwartungen, denn Francis Ford Coppolas Reise ins Herz der Finsternis zählt für mich zu den besten Filmen aller Zeiten. Für mich traf dieser elaborierte Vergleich im Endeffekt nur bedingt zu, denn in diesem wunderbaren Science-Fiction-Ritt steckt noch so unendlich viel mehr, was sich insbesondere im gebrochenen Spiel von Brad Pitt und den sagenhaft gut aussehenden Set-Pieces bemerkbar macht.
Für mich beherbergt dieses Werk nach wie vor eine mythische Aura, die durch keinen Spoiler der Welt agitiert werden könnte, denn mein Blick unterscheidet sich zuweilen sehr wohl von denen anderer Menschen. Bei allen sich daraus ergebenden Problemen ist das eine tolle Eigenheit unserer Wahrnehmung: Jeder kann sich selbst Schwerpunkte suchen und sie eigens interpretieren.
Eine derartige Faszination lässt sich nicht auf ein paar mögliche Spoiler herunterbrechen bzw. wird sie davon bei mir nicht sonderlich tangiert. Anders gesagt: Eine Idee kann sich auf dem Papier gut lesen, doch sie muss es noch lange nicht sein. Im Umkehrschluss bedeutet das auch, dass eine Filmstelle uninteressant klingen kann, sie aber im größeren Kontext eine völlig andere Wirkung entfaltet. Es geht also für mich in erster Linie um das Auskosten von Nuancen.
Gerade bei Produkten, die, (abgesehen von der nicht zu unterschätzenden Vermehrung des schnöden Mammons) vornehmlich für den Zweck des Schönen gedacht sind, kann sich jeder Mensch bedienen und man täte solchen Werken Unrecht, wenn man sie auf einzelne Bestandteile reduziert oder sich davon sogar die Erfahrung kaputt machen lässt.
Wie man an dieser Stelle wahrscheinlich herausliest, ist mein Denken sehr von kompositorischen Entscheidungen geleitet und diese Haltung lässt sich nicht großartig von bloßen Szenen-Beschreibungen beeindrucken. Darüber hinaus ist zu sagen, dass die meisten Interviews und Berichterstattungen, die unseren News-Alltag begleiten, noch genügend Spielraum für Fantasie lassen und es wäre schlimm, wenn man außer derartigen Auftritten nicht weitere Dinge auf der Habenseite eines Projekts verbuchen kann.
Natürlich gibt es dennoch Momente, die man im Vorfeld liebend gern nicht gewusst hätte (das berühmteste Beispiel ist wohl The Sixth Sense), doch derartige Spoiler umschiffe ich durch meine Intuition zumeist relativ gut - und wenn das einmal nicht gelingt, dann geht die Welt auch nicht unter, schließlich gibt es sowieso mehr als genügend Auswahl und es zählt eben auch zur Arbeit eines Redakteurs.
Lest auf Seite 3, weshalb ich denke, dass ein gelassenerer Umgang mit Spoilern helfen könnte.