Bewertung: 5 / 5
Martin Scorsese, Robert De Niro, Al Pacino, Joe Pesci, Harvey Keitel - Jeder für sich ein unglaublich großer Name des Kinos, sie sind große Talente und Legenden des modernen Hollywood. Jeder für sich eine Garantie für herausragende Leistungen im eigenen Fach. Aber alle unter einem Hut? In einem 203 Minuten langen Epos, welches Großtaten wie Der Pate oder auch Goodfellas wieder aufleben lassen soll? Im Jahr 2019? Dazu die De-Aging Technik, um den Darstellern das Aussehen ihrer ganz großen Zeit wiederzugeben, anstatt Darsteller im passenden Alter zu suchen? Alles Fragen die sich mir stellten, alles Ideen in meinem Kopf die Skepsis weckten, obwohl allein die Zutaten für sich nach einer Garantie für großes Kino aussahen. Großes Kino, das die meisten Leute nur daheim auf Netflix zu Gesicht bekommen werden. Etwas, was traurig macht, wenn man The Irishman im Kino genießen durfte wie ich. Denn der Film verdient, nein er FORDERT die Leinwand und das "Erlebnis" Kino.
Inhalt:
Frank "The Irishman" Sheeran (Robert De Niro) ist ein irischstämmiger Kriegsveteran, welcher als Lastwagenfahrer seinen mageren Lohn aufbessert, indem er Rindfleisch aus seinen Ladungen unter der Hand an die italienische Mafia verkauft. Darüber kommt er in Kontakt mit dem Mobster Russell Bufalino (Joe Pesci), welcher ihn mit seinem Partner Angelo Bruno (Harvey Keitel) unter die Fuchtel nimmt. Frank streicht in der Folgezeit Häuser mit dem Blut der Feinde des Mobs, Freundet sich aber auch mit dem Gewerkschaftsboss Jimmy Hoffa (Al Pacino) an, was ihn in eine schwierige Lage mit vielen verschiedenen Verbündete und Feinden bringt. Eine bewegte Lebensgeschichte über nahezu vier Jahrzehnte entspinnt sich...
Trailer zu The Irishman
Kritik:
Wir beginnen mit dem Offensichtlichsten und zugleich auch der ultimativen Stärke dieses Films - den Darstellern. Und wow. So gut, so intensiv, aber auch zugleich so in ihren Paraderollen gewürdigt, hat man die großen drei - De Niro, Pesci und Pacino - wohl seit sehr langer Zeit nicht mehr gesehen. Sicher, alle waren und sind grandiose Darsteller, aber an die großen Erfolge der 70er- bis 90er-Jahre konnten sie zuletzt nur noch selten anknüpfen, bzw. in Pescis Fall hatte er sich ja in den vergangenen 15 Jahren ohnehin extrem rar gemacht auf der Leinwand. Aber alle rufen ihr absolutes A-Level ab und man spürt zu jedem Zeitpunkt, dass ihnen die Rollen auf den Leib geschrieben wurden.
De Niro als stets ruhiger Mittelsmann, ein Ruhepol in der Mitte zwischen Pacinos emotionalen Ausbrüchen und Pescis berechnender Boshaftigkeit, der durch seine "ein Mann muss tun, was er tun muss"-Attitüde den Kriegsveteranen, welcher nicht mehr so richtig in dieses Amerika reinpasst, on Point verkörpert. Pacino als Geschäftsmann und Gewerkschaftsführer mit extrem kurzer Zündschnur fühlt sich sichtlich wohl unter Seinesgleichen, lässt aber insbesondere im Umgang mit De Niro und seiner Film-Familie (glorreich auch hier: ein kompletter Sub-Plot über seine zunehmende Entfremdung von der jüngsten Tochter Peggy) immer wieder auch die emotionalere, ruhigere Seite seiner Figur durchscheinen. Der fürsorgliche Freund, der empathische Anführer. Komplettiert wird das Trio durch den stets undurchsichtigen, aber immer auf der Oberfläche freundlich-kumpelhaften Pesci, bei dem es jedoch stets brodelt und der auf jede Frage eine Antwort zu haben scheint.
Ich war zuvor skeptisch gewesen, ob es das De-Aging wirklich brauchte, warum man nicht einfach jüngere Darsteller verpflichten konnte, welche sich die Rollen zu Eigen machen. Doch Scorsese zeigt seinem Zuschauer durch die Inszenierung eindrucksvoll, wieso das nicht funktioniert hätte. So eindrucksvoll in der Tat, dass man sich Steven Zaillians (unter anderem Verantwortlich für Schindlers Liste) Skript garnicht mit anderen Darstellern vorstellen mag. Als ich aus dem Saal kam, war mir klar, wieso es diese Darsteller und NUR DIESE Darsteller sein mussten. Und wenn diese Elite alles aus sich herausholt und so großartig aufspielt, dann weiß man, dass das niemand hätte besser machen können. Natürlich unterstützt von einem tollen Cast an Nebenfiguren - Harvey Keitel, Stephen Graham, Bobby Cannavale, Domenick Lombardozzi oder Anna Paquin, um nur ein paar zu nennen, sind allesamt ebenfalls ganz große Klasse - halten diese drei Giganten den Plot so perfekt zusammen, dass man genussvoll mit der Zunge schnalzen möchte.
Und Optisch? Macht das was her, oder sehen die alten Herren verjüngt aus wie Plastik? Tatsächlich fällt es so gut wie nie auf. De Niro, den man ohnehin am meisten sieht, glänzt manchmal an der einen oder anderen Stelle ein wenig im Gesicht und wirkt etwas unecht. Aber alles in allem ist das De-Aging wahnsinnig gut gelungen und man bekommt selten das Gefühl, dort eigentlich alte Herren vor sich zu haben, die nur digital verjüngt wurden. Einzig in der einen oder anderen Szene wird körperlich klar, wie viel älter De Niro eben in der Realität bereits ist als sein verjüngter Konterpart. Wenn er brutal einen Mann zusammentritt, sieht man durchaus, dass da ein Rentner bei der Arbeit ist. Diese wenigen Momente genügen jedoch nicht, um einen aus dem Film zu reißen und fallen, wenn man nicht grade aktiv darauf achtet, vermengt mit dem ohnehin oft schwarzen Humor und den sarkastischen Spitzen inklusive der einen oder anderen gekonnt verpackten Popkulturreferenz, überhaupt nicht auf. Audiovisuell ist der gesamte Film ein Genuss mit seinen weiten Einstellungen, langen Kamerafahrten, wenigen Schnitten und der unaufgeregten Inszenierung und läd zum Staunen und Verweilen ein, was bei der Laufzeit auch notwendig ist.
Kommt bei den 203 Minuten denn dann Langeweile auf? Tatsächlich nicht, keine Minute wirkt zu viel, jede Szene hat ihre Berechtigung und trägt zum Gesamtbild bei. Einmal mehr muss ich Zaillians Skript loben, welches den bewegten Werdegang Frank Sheerans aus so vielen Winkeln beleuchtet und bis zum Schluss immer wieder neue Elemente aufnimmt, die weitere Facetten der Figuren sichtbar machen, dass man applaudieren möchte. Gestützt wird die großartige Geschichte von vielen zeitgenössischen Musikstücken aus Jazz, Blues oder Rock und zudem dem reduzierten, jedoch stets unheimlich stimmungsvollen Score von Robbie Robertson, welcher bereits The Wolf of Wall Street für Scorsese mit Musik versorgte, der insbesondere durch die wundervollen Mundharmonica-Einlagen auffällt. Die Soundkulisse macht, ebenso wie die unaufgeregte, jedoch präzise und nach Jahren der Erfahrung einfach mühelos wirkende Inszenierung Scorseses genau was sie soll und stützt die epische Geschichte genau wie sie sollte.
Fazit:
The Irishman ist Kino, wie es sein sollte: Grandiose Darsteller spielen sich durch eine dicht geschriebene Geschichte und werden von gekonnter Hand perfekt in Szene gesetzt. Die teilweise ganz leicht holprigen Effekte und die Restriktionen durch das Alter der Darsteller werden zu 99% von Scorsese aufgefangen und fallen aufgrund der teilweise extrem dialoglastigen Struktur nicht weiter negativ ins Gewicht. Und während ein angenehm atmosphärischer Score und ein guter Soundtrack eine lange vergessene Zeit wieder aufleben lassen, frage ich mich als Zuschauer, warum Kino nicht immer so bedeutsam sein kann. Und wieso ein Martin Scorsese in der heutigen Zeit gezwungen ist, ein solches Großwerk auf Netflix zu veröffentlichen. Wer kann, schaut sich The Irishman bitte, bitte, bitte um seinetwillen, im Kino an. Fahrt zur Not ein Stück, der Film atmet Kino und lebt für die Leinwand. Auf Netflix kann und wird er diese Intensität nicht erreichen, wie er sie im altmodischen Kinosaal des Programmkinos entfachen kann. Ganz großes Highlight und ein klarer Kandidat für meinen Film des Jahres.
Von mir ganz persönlich gibts die Höchstwertung 10/10
Lässt man sich auf dieses Epos ein, wird man mit über 3 Stunden allerfeinster Kinokost belohnt und einmal mehr Zeuge von Scorseses großer Kunst.