Bewertung: 4 / 5
„Bilde ich mir das nur ein oder wird die Welt immer verrückter?"
Als ich Anfang des vergangenen Jahres davon hörte, man wolle einen Film über den Joker drehen, war ich nicht sonderlich begeistert: Noch eine Heldencomicverfilmung, als wäre das Kino nicht ohnehin schon derart überflutet und noch ein möglicherweise guter, düsterer Ansatz, der auf die Kinderfreigabe heruntergebrochen wird, dachte ich bei mir. Dass die Realität zum Glück eine ganz andere werden sollte, konnte ich da ja noch nicht ahnen; zu eindeutige Beispiele gab es in der Vergangenheit, welche meinen Gedankengang berechtigt sein ließen. Aber mit Joker hat man etwas gewagt, etwas riskiert – man hat mitten in den reinen Mainstream endlich mal wieder anspruchsvolle Kunst geworfen. Und es ist etwas geworden.
Trailer zu Joker
Arthur Fleck (Joaquin Phoenix) ist mit mehreren psychischen Erkrankungen gestraft, welche ihm das Leben schwer machen. Er kann nicht kontrollieren, wann er lacht, meistens an den falschen Stellen. Nebenher arbeitet er als Clown bei einer kleinen Firma, lebt bei seiner Mutter in Gotham und wäre gern Standupcomedian, wie Murray Franklin (Robert DeNiro), sein großes Vorbild. Aber in der Stadt herrscht Unzufriedenheit, Armut und Unverständnis gegenüber Leuten wie Arthur, der das Übel hinnehmen muss – bis er irgendwann an eine Waffe gelangt.
Spätestens, als sich unter den ersten Pressemitteilungen über Joker auch Stimmen fanden, die den Film als „gefährlich“ bezeichneten und ihm „Gewaltverherrlichung“ vorwarfen, wurde es interessant. Das hieß nämlich, dass der Film dem Zuschauer wahrscheinlich Mitdenken und Reflexion abverlangen würde, dass er über Oberflächlichkeiten hinausgehen sowie eventuell sogar gezielt politische Themen ansprechen würde. Und ja, während Arthur immer wieder von sich betont, er sei unpolitisch, ist der Film das definitiv nicht – was er zu sagen hat, ist dabei eine seiner größten Stärken.
Besonders die kritischen Töne stechen heraus, wenn der Film wieder und wieder soziale Ungleichheiten, Diskriminierungen, den immer krasser werdenden Unterschied zwischen Arm und Reich sowie die Hinwendung zur Gewalt anprangerte. Gerade bei letzterem ist es lobenswert, wie mutig der Film dem Zuschauer die Einordnung überlässt. Er vertraut – uns das ist besonders bei dem heutigen Publikum von großem Wert – auf die Intelligenz, die Moral der Rezipienten und verlangt, dass man sich selbst Gedanken über richtig und falsch macht. Kombiniert mit dem humanistischen Menschenbild des Filmes musste das zwangsläufig zu unsinnigen Beschwerden führen, die der Film glücklicher Weise schon im Vorfeld schulterzuckend ignorierte, statt sich dem geringst möglichen Diskurs anzubiedern.
Aber auch darüber hinaus ist der Streifen wahrlich gelungen. Er liefert eine bewegende, tragische und konsequente Charakterzeichnung, deren psyschologische Ansätze zu begeistern wissen und deren gefühlvolle Darstellung in mehreren Szenen mehr als nahe geht. Die Entwicklung des Jokers geschieht zwar manchmal zu schnell, beeindruckt aber mit einer starken Bandbreiten an Verzwickungen und dem grausamen Schicksal.
Getragen wird all das von einem überragenden Joaquin Phoenix, der – trotz mehreren großartigen Schauspielleistungen in den letztjährigen Filmen – die beste Darstellung 2019 ablieferte. Wenn man der Figur ansieht, dass sie während des Lachens lieber weinen möchte, ist das ein herzzerreißend eingängiges Schauspiel, dem man sich nur schwer entziehen kann. Und das Phoenix für die Rolle über 30 Kilogramm abgenommen hat, sagt eigentlich alles aus. Die anderen Schauspieler, in erster Linie Robert DeNiro, boten gleichfalls eine starke Darstellung, sodass sie sich nicht hinter dem Hauptakteur verstecken mussten.
Ebenso ergänzend wirkt der gelungene Soundtrack, der sich mit seiner dröhnenden Dominanz passend zur Handlung immer weiter zuspitzt und einzelne Szenen perfekt akzentuiert. Zudem unterstreicht er meisterhaft die besonderen Bilder, deren Wirkung unvergesslich bleibt. Denn die Kameraführung ist ohnehin äußerst stark, mit interessanten Sequenzen, viel Kreativität, toller Farbgebung und intensiven Kontrasten. Insbesondere wie dabei legendäre Filme wie der 1976er Taxi Driver von Martin Scorsese zitiert werden, ist bemerkenswert.
Die Dialoge sind dabei mit das Wichtigste am Film und an keinem Punkt zu bemängeln. Klasse geschrieben, transportieren sie die guten Botschaften des Filmes und liefern zugleich einen Einblick in die Figuren sowie einen Antrieb zur Handlung, welche immer wieder sehr beeindruckend mit der Verwischung von Realität und Einbildung spielt.
An dieser Stelle liegen aber auch die Kritikpunkte des Streifens. Oftmals wird doch zu viel erklärt, was eine mögliche Zweideutigkeit nimmt und den Zuschauer zu sehr bevormundet. Da hätte ich mir Subtilität gewünscht, mehr Spielraum für Interpretationen, mehr Vielschichtigkeit. Die noch im Film gebliebenen Interpretationsansätze sind aus diesem Grund weniger gelungen und teilweise unstimmig, da sie nicht ausreichend begründbar sind oder gar die Filmhandlung obsolet machen würden. Ein weiterer Makel ist, dass sich manches zu schnell entwickelt, wenngleich dies nicht weiter ins Gewicht fällt.
Bevor ich auf das Ende des Filmes eingehe und die Review abschließe, muss ich hier noch auf die Gewalt im Film zu sprechen kommen. Denn man hat mit Joker – anders als im Heldengenre leider größtenteils üblich – eben nicht aus Einnahmegründen die Kinderfreigabe gewählt, sondern ihn düster, brutal und dreckig konzipiert, was ihn realistischer, wuchtiger und intensiver macht, als es andernfalls möglich wäre. Schön ist, dass man dafür einnahmetechnisch belohnt wurde.
Aus genannt Gründen schließe ich mich der FSK 16 vollständig an. Mal unabhängig davon, dass Jüngere tatsächlich noch nicht vollständig in der Lage währen, den Film einzuordnen und sich zu distanzieren, zeigt er recht blutige Gewalt, die Kinderaugen nicht sehen sollten. Auch ich würde ihn deshalb ab 16 freigeben (Brutalität: 6 von 10 für 16).
Um nicht zu spoilern, überlasse ich es jedem selbst, die gelungene Symbolik des Endes zu deuten. Der vorhergehende Höhepunkt ist es jedoch, der die beste Szenen im Film markiert, der mich angenehm sprachlos gemacht hat und extrem gut wirkt. Er bringt den Streifen einfach perfekt auf den Punkt und bietet darüber hinaus eine überaus stimmige, geschlossene Offenheit – aber bitte, bitte macht daraus keine Fortsetzung, sondern lasst Joker stehen, wie er ist.
Denn ich möchte ungern mit ansehen, wie eine Fortsetzung das Andenken an diesen Film verändert, wo er doch so gut für sich steht und meinen drittbesten Film aus 2019 markiert. Ich freue mich, dass man im Mainstreambereich dieses filmische „Experiment“ gewagt hat und es das Publikum scheinbar doch noch zu würdigen weiß. Das ist hoffentlich ein Anreiz für Studios, wieder mehr hochwertige Kunst statt Standardunterhaltung zu finanzieren, trotz der übermäßigen Disneydominanz.
Als Drama erhält Joker 9 Punkte, als Thriller und als künstlerischer Film 8,5 Punkte sowie insgesamt
8,5 von 10 Punkten.