Bewertung: 4.5 / 5
Im "Zuletzt gesehen"-Thread diskutierten vor einigen Tagen u.A. Strubi, Shalva, eli4s und bartacuda über die These, dass Filme heutzutage nicht mehr so zu begeistern wissen wie noch vor 15-30 Jahren. Parallel dazu sah ich mir "Toni Erdmann" an - ein perfekter Zeitpunkt, denn dieser Film funktioniert hervorragend als Antithese.
Winfried Conradi ist ein pensionierter Alt-68er, lebt alleine bzw. mit seinem Hund zusammen und hat einen ausgefallenen Hang zu skurilen und klamaukigen Scherzen. Seine von ihm entfremdete Tochter Ines, eine Karrierefrau, arbeitet als Unternehmensberaterin für große Firmen und lebt mittlerweile in Bukarest. Nachdem sein Hund gestorben ist, stattet Winfried ihr einen spontanen Besuch ab und mischt ihr persönliches sowie berufliches Umfeld als sein Alter Ego Toni Erdmann ordentlich auf.
Trailer zu Toni Erdmann
Mit "Toni Erdmann" erzählt Maren Ade auf mehrere Weise eine Geschichte über die Liebe und das Leben. Als Außenstehender könnte man durchaus behaupten, Winfried lebe das perfekte Leben, denn er lässt jeden Tag auf sich zurollen, schaut, was dieser für ihn bereithält und verliert dabei nie seinen Humor. Der Blick, den Ade in sein Leben gewährt, macht allerdings deutlich, dass es unter gewissen Bedingungen wie ein Kartenhaus in sich zusammfallen kann. Von seiner Ehefrau ist er geschieden und seine Tochter bekommt er kaum zu Gesicht, er lebt alleine mit seinem Hund. Der Tod seines Hundes reißt ein Loch in Winfrieds Leben und dieses Loch - diesen Mangel an emotionaler Nähe - versucht er durch den Besuch seiner Tochter zu schließen. Mit "Toni Erdmann" beweist Maren Ade, dass ein perfektes Leben von außen betrachtet gegebenenfalls nur ein Schein sein kann.
Zu seiner Reise nach Rumänien entschließt sich Winfried darüberhinaus, weil er bei einem Kurzbesuch seiner Tochter in der Heimat bestürzt feststellen musste, wie sehr ihr Leben mittlerweile von ihrem Job und der Karriereleiter dominiert wird. Indem er in die Rolle seines Alter Egos Toni Erdmann schlüpft und ein Schauspiel aufbaut, hält er Ines den Spiegel vor und offenbart ihr, dass sie ebenfalls an einem Schauspiel (der Businessbranche) teilnimmt. Winfried möchte ihr den Weg zurück in ihr altes Leben zeigen, sie soll wieder Spaß daran haben. Es spricht für seine unerschütterliche Liebe zu seiner Tochter, dass er sich von Rückschlägen und Momenten vollkommender Niedergeschlagenheit nicht beirren lässt und nicht aufgibt.
Mit Ines Beziehung zu ihrem Vater und ihren Reaktionen auf sein Auftauchen und allgemeines Auftreten thematisiert Maren Ade des Weiteren bestimmte Situationen im Leben, die wahrscheinlich jedes Kind schon erlebt hat. Man liebt seine Eltern oder Großeltern, aber merkwürdigerweise schämt man sich in manchen Situationen für sie bzw. ihre Eigenarten und wünscht sie am liebsten an das andere Ende des Planeten. Beispielsweise, wenn man ihnen die eigenen Freunde, den Lebenspartner oder die Berufskollegen vorstellt. Diese Momente der Fremdscham werden in "Toni Erdmann" auf die Spitze getrieben, Maren Ade bietet zudem beide Sichtweisen an - die des Kindes und die des Vaters.
"Toni Erdmann" ist das ca. 150-minütige Endprodukt aus über 120 Stunden Filmmaterial, die Schnittbearbeitung und Postproduktion kommt einer Meisterleistung gleich! Dank des Erzählstils Maren Ades und der hervorragenden Schauspielerleistungen - insbesondere der von Peter Simonischek und Sandra Hüller - ergibt sich ein äußerst gefühl- und humorvolles Filmerlebnis, das größtenteils wie im Flug vergeht und nur in den letzten 20 Minuten etwas an Tempo verliert. Für mich ist "Toni Erdmann" einer der besten Filme des vergangenen Jahres.