Bewertung: 4 / 5
Schaut man sich den filmischen Output der Marvel Studios seit 2008 an, so sticht ins Auge, dass es im Zeitraum bis 2017 ausschließlich Solofilme mit weißen Männern als Hauptfiguren gab, während seitdem verstärkt auch Charaktere anderen Geschlechts bzw. anderer Hautfarbe Filme anführen dürfen. Diese Entwicklung ist kein Zufall, sondern hängt mit einer einschneidenden Weichenstellung des Jahres 2015 zusammen. Damals entschied Disney, Kevin Feige die alleinige Kontrolle über die Marvel Studios zu übertragen, während er bis dato noch dem Marvel-CEO Ike Perlmutter Rechenschaft ablegen musste, was immer wieder zu Konflikten zwischen diesen beiden geführt hatte, da Perlmutter die Entwicklung einiger Wunsch-Projekte von Feige boykottierte. Dabei handelte es sich um Filme mit weiblichen bzw. nicht-weißen Hauptfiguren, da diese Perlmutters Einschätzung zufolge keine Erfolgsaussichten an den Kinokassen haben würden. Sechs Jahre und und zwei Milliarden-Hits ("Black Panther" und "Captain Marvel") später kann man festhalten, dass Perlmutter mit seiner "Analyse" falsch lag.
Die Figur, die wohl am meisten unter Perlmutters Einfluss in den Anfangsjahren des MCU gelitten hat, ist mit Black Widow der einzige weibliche Avenger der ersten Stunde, die erst jetzt und damit für viele zu spät ihren Solofilm bekommt, so dass sich die Frage stellt, ob sich dieser Blick in die Vergangenheit dennoch lohnt.
Trailer zu Black Widow
Handlung
Nach den Ereignissen in "Captain America: Civil War" ist Natasha Romanoff auf der Flucht vor dem Gesetz untergetaucht. Als sie in den Besitz einiger mysteriöser Fläschchen kommt, wird sie jedoch unversehens zur Zielscheibe einer Organisation, die sie eigentlich ausgelöscht wähnte, woraufhin sie eine Reise zu ihren Wurzeln antritt, die sie zunächst in die ungarische Hauptstadt (Easter Egg Alert!) und im weiteren Verlauf zu einer Wiedervereinigung mit ihrer ersten "Familie", bestehend aus den weiteren Red Room-Absolventinnen Yelena und Melina sowie Red Guardian, dem "größten Widersacher von Captain America", führt.
Kritik
"Black Widow" beginnt für einen MCU-Film recht ungewohnt, da nach einem Prolog eine Vorspannsequenz mit den Credits der Schauspieler und Hauptcrew einsetzt wie sie von den neueren Beiträgen einzig die "Guardians of the Galaxy"-Filme aufweisen. Während sie bei diesen allerdings humorvoll gestaltet sind, ist er hier der Titelfigur angemessen düster und erzeugt eine durchaus verstörende Wirkung, die auch den Ton vorgibt, denn tatsächlich dürfte es sich hierbei um einen der thematisch heftigsten MCU-Beiträge handeln.
Was bisher nur angedeutet wurde, die Vorgeschichte im Red Room und Ereignisse, die zu Natashas vielzitiertem "Red Ledger" geführt haben, wird endlich genauer beleuchtet, so dass wir es hier mit einem Themenkomplex um misshandelte Frauen und Unterdrückung des freien Willens zu tun haben. Gleichzeitig ist es auch eine Emanzipationsgeschichte, ohne dass dies allzu aufdringlich in den Fokus gerückt würde, es ergibt sich vielmehr organisch aus dem Plot, der quasi ein Revenge-Thriller im Spionagestil ist.
"Black Widow" ist aber unmissverständlich immer noch ein MCU-Film und so poppt im weiteren Verlauf der Geschichte immer wieder der für das Franchise typische Humor auf, allerdings dosierter als in den meisten anderen Vertretern und manchmal auch so schwarz, dass einem das Lachen kurz im Hals stecken bleibt. Vor allem Yelena kompensiert die schrecklichen Dinge, die ihr angetan wurden, über ihren trockenen Humor, was für solche absurden Momente sorgt, etwa wenn sie einen misogynen Spruch über ihre Periode kontert.
Auch bei Red Guardian, der hauptsächlich die Rolle als Comic Relief einnimmt, wird deutlich, dass er sich einen Schutzpanzer angelegt hat, um die Schuld, die er auf sich geladen hat, zu verdrängen. Die humorvollen Elemente verkommen hier somit nicht zum Selbstzweck, sondern haben durchaus ihre Berechtigung. Sie lenken auch nicht von den dramatischen Aspekten der Geschichte ab, die vom durch die Bank starken Cast exzellent vorgetragen werden. Auch wenn einige hierbei Florence Pugh hervorheben werden, weil ihre Rolle auffälliger ist, gibt Scarlett Johansson mit einer nuancierten Darstellung eine mehr als würdige Abschiedsperformance.
Wer "Lore" gesehen hat (Empfehlung!) konnte bereits ahnen, dass Cate Shortland eine gute Wahl auf dem Regiestuhl sein würde und sie meistert die Gratwanderung zwischen Marvel-Leichtigkeit und brutaleren Szenen mit Bravour. Auf filmtechnischer Seite macht sich zudem die Entscheidung bezahlt, viele Szenen an Originalschauplätzen und an richtigen Sets zu drehen, was eine willkommene Abwechslung ist, nachdem gerade die Filme der Russo-Brüder es mit dem Greenscreen-Einsatz zuletzt etwas übertrieben hatten.
Lorne Balfes Score ist passend (soll man sagen, dem Spionagethema angemessen unauffällig?), tatsächlich sind es aber eher die eingesetzten Original-Songs, die im Gedächtnis bleiben, was eine weitere Gemeinsamkeit mit den "Guardians"-Filmen ist; diese formalen Parallelen sind durchaus erstaunlich wenn man bedenkt wie gegensätzlich die Beiträge von ihrem Ton her zueinander stehen. Die Action ist mitreißend inszeniert, wobei die Kampfszenen gerne auch ein bisschen länger hätten sein können, da man gar nicht genug davon bekommt, Taskmaster etliche Signature Moves der Avengers kopieren zu sehen.
Der starke Fokus auf Natasha und ihre dysfunktionale Familie macht sich indes dahingehend negativ bemerkbar, dass zu wenig Zeit bleibt, die Antagonisten interessanter zu zeichnen. Dreykov hat nicht viel mehr Eigenschaften als böse und Taskmaster ist im Prinzip nur ein Handlanger, der hauptsächlich in den Actionszenen glänzt, wobei am Ende doch noch versucht wird ihm Tiefe zu geben. Diese Auflösung passt gut in die hier erzählte Geschichte, in der es eben um Black Widow geht, hat aber das Potential die Meinungen zu spalten.
In erster Linie will dieser Film aber ein emotionaler Schwanengesang für die Titelfigur sein und dieses Ziel erreicht er. Es gibt zahlreiche Referenzen an ihre früheren Auftritte und wer mit den Comics von Marvels Superspionin vertraut ist, wird Einiges finden, das direkt aus diesen übernommen wurde. Besonders schön ist auch, dass der Film, wenn er erwartungsgemäß die weitere Entwicklung des MCU anstößt, in gewisser Weise auch Natasha weiterhin eine Rolle spielen lässt.
Fazit
Ja, der Film kommt einerseits zu spät, aber andererseits ist es für einen guten Film nie zu spät. "Black Widow" fühlt sich mit seiner thematischen Schwere und seinem vergleichsweise düsteren Ton im MCU durchaus einzigartig an und hat sich somit schon dafür gelohnt, den Kino-Output des führenden Blockbuster-Franchises weiter zu diversifizieren. Vielfach wird der Film mit "Captain America: The Winter Soldier" verglichen, was zum Teil auch zutreffend ist. Ich würde ihn aber am ehesten als Mischung aus "Avengers: Endgame" und "Logan" beschreiben. Wie das zusammenpasst, muss jeder selbst herausfinden. Am besten natürlich im Kino.