
Bewertung: 4 / 5
Nach X folgt mit Pearl Ti Wests neuer Streich seiner Exploitation-Horror-Trilogie. Wie der Name des Films schon verrät, tauchen wir noch tiefer in das bewegte Leben von Mia Goths mordlüsterner Figur ein. Haben wir es buchstäblich mit einer Perle des Genres zu tun oder macht man um die kleine Psychofarm besser einen großen Bogen?
Pearl Kritik
Das Leben ist kein Wunschkonzert: Während ihr Ehemann in Übersee dem Großen Krieg ein Ende zu bereiten versucht, träumt die junge Farmerin Pearl (Mia Goth) von ihrem Durchbruch als Tänzerin. Unter den Augen ihrer streng-religiösen und unbarmherzigen Mutter soll sie sich ihrem Schicksal beugen und verantwortungsbewusst den gebrechlichen Vater pflegen. Da die Spanische Grippe auch diesen Ort fest im Griff hält, kann sich die abenteuerlustige Frau nicht einmal ungehindert in der Stadt ausleben. Unter diesen repressiven Umständen bekommt die Seele von Pearl zunehmend mehr Risse ...
Trailer zu Pearl
Pearl ist ein Low-Budget-Film, der geschickt Genregrenzen aufzuweichen vermag, indem er über die komplette Spieldauer auf vielfältige stilistische Spielereien zurückgreift. Zuvorderst dürften bewanderte Cineast:innen in Anbetracht des abgründigen Schauerfilms ihre Freude haben, denn an jeder Ecke lauern verdrehte Referenzen an die Filmgeschichte, die direkt manch berühmten Märchen oder Musical zu entstammen scheinen. Wenn etwa die titelgebende Frauenfigur mit ihren auf dem Bauernhof lebenden Tieren plaudert, scheint es nur ein Fingerschnippen entfernt, dass diese ebenfalls mit liebevollen Worten aufwarten.
Über dem Geschehen thront ein dauerpräsenter Orchester-Score, der sich mit zunehmender Spieldauer in den Gehörgang brennt. Ebenso gewaltig ist die farbenprächtige Sättigung geraten, die an die Glanzzeiten der Technicolor-Ära appelliert - allen voran The Wizard of Oz oder Vom Winde verweht werden auf krude Weise mit dem Flair eines The Texas Chainsaw Massacre kombiniert.
Die Integration einiger Anleihen kann allerdings mitunter überfordern, denn nicht immer ist unmittelbar ersichtlich, warum diese zur Anwendung gebracht werden. Für Menschen, die gern die Motive eines Werkes genauer unter die Lupe nehmen, ist dieser Ansatz aber ein gefundenes Fressen. Bezüglich unserer heutigen Lebenswelt kommt es wohl nicht von ungefähr, dass die Spanische Grippe und der Erste Weltkrieg recht prominent innerhalb der Handlung zum Tragen kommen.
Apropos fressen: Im Gegensatz zu X versteht sich Pearl deutlich weniger auf klassische Slasher-Kost. Es geht hier zuvorderst nicht um das Niedermetzeln von Widersachern, sondern um die Abgründe einer jungen Frau, die unter mangelnder Anerkennung und Freiheit leidet. Demnach haben wir es also auch thematisch mit einem Zerrspiegel zu Wests vorangegangenem Beitrag zu tun und am ehesten erinnert dieser Mittelfilm der Trilogie wohl an den psychologischen Horror eines Midsommar.
Und so viel können wir bei diesem Vergleich mit Ari Asters schaurigem Tagtraum sagen: Mia Goth als von Psychosen und Wut geplagtes Landei liefert eine Performance ab, die aufgrund ihres ausweglos anmutenden Leidens das Blut in den Adern gefrieren lässt. Goths zahlreiche entrückte Blicke und ihre lieblich-säuselnde Stimme machen es schwer, nicht von ihr vereinnahmt zu werden. Ohne ihre melodramatisch überdrehte Performance würde dieses Horrorwerk nicht funktionieren!
Besonders das letzte Viertel von Pearl entschädigt für die ein wenig zu langatmig geratene Geschichte und offenbart die unbändige schauspielerische Bandbreite von Goth. Es entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie, dass ihre Leinwandheldin nicht mit einem solchen Talent bedacht wurde. Und müssten wir eine morbide Passage am Ende des Films, in der es mit dem leibhaftigen Teufel zuzugehen scheint, auf einen einzigen Begriff festnageln, es wäre Anziehungskraft.
Zweifellos täten wir aber besonders Tandi Wright Unrecht, wenn wir nicht auch erwähnen würden, dass sie die standesbewusste Mutter herrlich bieder zum Besten gibt und sie einige fiese verbale Schelten verteilt. Ebenso muss man es Matthew Sunderland anrechnen, wie er den Vater als regungslosen Pflegefall zu vermitteln imstande ist. Achtet beim Kinobesuch unbedingt auf die verstörten Blicke, die er den beiden Frauen im Landhaus zuteilwerden lässt.
Fazit
Mit Pearl hat Ti West womöglich den verdrehtesten Horrorfilm des Jahres abgeliefert. Zweifellos werden damit nicht alle Leute etwas anfangen können, da weite Teile der Darbietungen bewusst aus anderen Filmepochen entlehnt wurden. Doch ist es nicht gerade diese kühne Herangehensweise, die uns dazu zwingt, unsere Erwartungen zu hinterfragen und neue Wege im Horrorgenre zu erkunden? Erst durch diese Radikalität wirkt die im Film verhandelte Befreiung von familiären Zwängen und Zurückweisungen unverbraucht.
Wir freuen uns bereits mächtig darauf, mit Mia Goth Hollywoods derzeit abgebrühteste Horrorqueen in MaXXXine wiederzusehen und fragen uns, welches grauenerregende Sub-Genre wohl dort auf uns lauern wird.
Wiederschauwert: 70 %
