Bewertung: 4 / 5
Gehirntumor, nicht operierbar, so lautet die Diagnose. Nach dem ersten Schock geht es für den 40-jährigen Frank (Milan Peschel) um praktische Fragen: Was wird mit seinem Körper passieren? Wie soll man es den Kindern sagen? Und wie funktioniert das mit dem Sterben, vor allem wenn man bis zum Ende zu Hause bleiben will? Andreas Dresen interessiert sich nicht fürs große Melodram mit metaphysischer Wendung und philosophischer Erkenntnis. In Halt auf freier Strecke befreit der deutsche Regisseur das Thema Tod von allem Überflüssigen und reduziert es, schonungslos ehrlich und realistisch, auf seine Essenz.
Gerade hat Frank sich mit seiner Familie den Traum vom Haus am Stadtrand von Berlin erfüllt. Nun muss sich der Mann mit dem nahenden Tod auseinandersetzen. Die Krankheit nimmt dabei schleichend ihren Lauf. Während Frank die Diagnose seelisch immer mehr aus der Bahn wirft, versuchen seine Frau Simone (Steffi Kühnert) und die Kinder Lilli (Talisa Lilli Lemke) und Mika (Mika Nilson Seidel), die Normalität aufrechtzuerhalten.
Mit dem beginnenden äußerlichen Verfall Franks wird auch Halt auf freier Strecke zu einem immer körperlicheren Film. Es wird gespuckt, geschrien und gepinkelt. Dann gibt es den letzten Sex, irgendwann die letzte Zigarette und den heimlichen Wunsch, alles möge doch schnell zu Ende gehen. Wenn Simone nachts ihren sich windenden Mann spritzen muss, macht der Film ganz unmissverständlich klar, dass der Tod für ihn eine Erlösung wäre.
Dresens Entscheidung, erneut auf Improvisation zu setzen, erweist sich als goldrichtig: Milan Peschel und Steffi Kühnert gehen ohne vorgefertigte Dialoge in die Szenen hinein und werden auf der Leinwand zu einem glaubwürdigen Paar, das diesen Schicksalsschlag aushalten muss. Konfrontiert mit echtem medizinischem Personal entstehen Szenen ohne Sentimentalität, aber mit voller emotionaler Wucht.
Statt auf Gerätemedizin trifft der Zuschauer in diesem Film auf Menschen, die hoffen lassen, dass unser Gesundheitssystem doch besser ist als sein Ruf. Fast zu gut, um wahr zu sein, wirkt die Palliativ-Ärztin Petra Anwar, die sterbende Menschen zu Hause medizinisch betreut. Dabei wird sie zu einer Art praktischen Seelsorgerin auch für die Angehörigen.
Denn das Abschiednehmen in Halt auf freier Strecke ist Familiensache und findet hier bis zum Ende zu Hause statt. Bei seinen Recherchen erfuhr Dresen, dass Angehörige Sterbender dem nicht immer gewachsen sind. Vor allem Leute, die zu sehr reflektieren, lassen sich von ihren Ängsten und Gedanken zerfressen. Zudem gehört eine große Nervenstärke dazu, in einer extremen Situation selbst zu helfen und nicht den Notarzt zu rufen, der den Patienten dann ins Krankenhaus bringt. Halt auf freier Strecke ist ein unangenehmer Film, der nicht zum betäubenden Weichzeichner greift, wenn es wehtut. Dresens Film hat keine Helden und lässt jede menschliche Schwäche zu. Er zeigt aber auch, dass man von Mitmenschen - sei es die Familie, Freunde oder die eigenen Kinder - manchmal mehr bekommt, als man zu hoffen wagt.
Halt auf freier Strecke bekommt 4 von 5 Hüten.
(Quelle: teleschau - der mediendienst | Diemuth Schmidt)