Bewertung: 4.5 / 5
Wenn Lucas (Nicolas Duvauchelle) das teure Restaurant betritt, in dem Mélina Martin (Karin Viard) mitags zu essen pflegt, ist ihre Tarnung fast aufgeflogen. Für sein Schweigen über Mélinas wahre Identität als Radiomoderatorin einer Kummerkastensendung will der eigentlich recht sympathische Möchtegern-Fotograf eine Gefälligkeit: Mélina soll ihm Zutritt zur Kunst-Schickeria verschaffen. Lucas glaubt, dass Mélina nur deshalb zusammen mit seiner Großmutter Joelle Altkleider sortiert, weil sie inkognito Material für eine Reportage über arme Leute sammelt. Tatsächlich aber sucht Mélina in dem französischen Kinodrama Sag, dass du mich liebst nur unauffällig das Gespräch mit Joelle - ihrer Mutter.
Die im Waisenhaus aufgewachsene Mélina, mittlerweile um die 40, hat jahrelang nach ihrer Mutter forschen lassen. Jetzt aber wagt sie es nicht, sich gegenüber Joelle Goulain (Nadia Barentin) als ihre Tochter zu erkennen zu geben. Stattdessen horcht die kühle Blondine die ältere Dame über ihre Familiengeschichte und ihre Kinder aus, engagiert sich an ihrer Seite in gemeinnütziger Arbeit und bandelt fast mit Lucas an, der ihr zufällig auf die Schliche kommt. Wie um ihrer Mutter wenigstens innerlich ganz nahe zu sein, lauscht sie unter Tränen den alten Schlagern, die sie so geliebt hat, und sieht Dokumentationen über Tambourmajorinnen, weil Joelle auch einmal eine war. Joelle aber wird misstrauisch, ahnt, wer Mélina wirklich ist, und fürchtet sich bald vor ihr.
Was hindert Mélina daran, offen zu sein? Es ist der gesellschaftliche Abgrund, der zwischen ihnen klafft. Wenn die luxuriös lebende Mélina endlich ihrer Mutter gegenübertritt, ist sie geschockt von der Kette rauchenden und fleißig Alkohol kippenden Frau mit der knarzigen Stimme, die in einem geschmacklos eingerichteten und etwas schäbigen Reihenhaus in der Vorstadt wohnt, in dem rassistische Sprüche geklopft werden und die Männer große Tattoos tragen. Mélinas neurotische Ticks erlauben ihr nicht, auf Lucas Geburtstagsparty die Handschuhe geschweige denn den Mantel abzulegen. Regisseur und Autor Pierre Pinaud gibt so auf komische Weise zu verstehen, dass sie innerlich und äußerlich die soziale Schwelle nicht überschreiten kann.
Der Alltag gewöhnlicher Menschen wird unversehens zur Entdeckungsreise der Gefühle - daran erkennt man sofort, dass Sag, dass du mich liebst aus Frankreich kommt. Doch der Film beschäftigt sich nicht nur humorvoll mit der emotionalen Verwirrung der weiblichen Hauptfigur. Die schwierige Beziehung zwischen der ehemaligen Arbeiterin und der arrivierten feinen Dame spiegelt auch das Spannungsverhältnis der normalen Franzosen zu ihren arroganten Eliten in Wirtschaft, Politik und Medien. Als deren Repräsentantin wird Mélina von Lucas sofort identifiziert. Souverän spielt Karin Viard diesen Typus parodistisch und bis zur Kenntlichkeit verzerrt. Sie erscheinen tüchtig, diese Damen und Herren, aber auch herzlos und unglücklich. Umso dringlicher fordert Mélina von ihrer Mutter: "Sag, dass du mich liebst."
Sag, dass du mich liebst bekommt 4,5 von 5 Hüten.
(Quelle: teleschau - der mediendienst | Andreas Günther)