Kommen wir zu unserer persönlichen Einordnung des Esquire-Artikels: Zuallererst ist der Ausgangspunkt anerkennenswert, die von Martin Scorsese einst losgetretene Debatte um den drohenden Verfall der Kinokultur noch einmal vor dem aktuellen Hintergrund von Marvels Phase-4-Plänen zu verhandeln. Zweifellos ist sich das Publikum nach wie vor uneins, wohin die Reise geht. Auch kommen wir nicht umhin, in Teilen beizupflichten, dass sich in den letzten Wochen durchaus die besagte MCU-Müdigkeit eingestellt hat, die Nicholson in seinem Artikel anprangert. Dennoch ist das kein Marvel-exklusives Phänomen, da dies in ähnlicher Weise bei den Ankündigungen zu ähnlich zugkräftigen Marken wie Star Wars (Obi-Wan Kenobi, Andor) oder Pixar (Rot, Lightyear) zu vernehmen ist.
Für unseren Geschmack sollte der immense zeitliche Abstand zu Scorseses Stellungnahme aber dazu dienen, einen weniger giftigen Blick auf Marvel-Filme zu kultivieren und tiefgreifendere Gedanken zu entwickeln, die die mutmaßliche Krise des Studios einzuordnen versuchen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die angesprochene Müdigkeit eingedämmt wird, sofern die umfassenderen Pläne von Phase 4 und 5 zünden. Eine Findungsphase muss nicht immer schlecht sein, sondern bietet durchaus Raum zum Experimentieren.
Natürlich ist ein vorläufiges Scheitern innerhalb des Szenarios durchaus möglich, doch in Anbetracht der Gewinnabsichten wird man das mit aller Kraft vermeiden wollen. Der Argwohn von Nicholson entbehrt dabei nicht einer gewissen Komik: Die weniger schematische Gangart schien den kritischen Stimmen bislang zu fehlen, doch nun, wo man sich von Konventionen zu befreien versucht, geht es jenen Menschen nicht schnell und erfolgreich genug. Ruhig Blut also!
Bedenkenswert ist ebenfalls, dass die Etablierung neuer Helden ihre Zeit benötigt: Auch Tony Stark oder Black Widow waren keinesfalls von vornherein die No-Brainer-Publikumsmagneten, zu denen sie Nicholson zu stilisieren versucht. Die Figuren wuchsen den Menschen über die Jahre zunehmend ans Herz und konnten erst durch ihre wiederkehrenden Auftritte emotionale Regungen hervorrufen. Die große Frage ist natürlich, ob man erneut imstande ist, spannende Helden und Heldinnen für die heutige Zeit zu etablieren.
Ebenfalls muss gesagt werden, dass es vor dem Hintergrund der Zäsur nach Avengers - Endgame nur logisch ist, dass man neue Menschen mit den MCU-Beiträgen beauftragt hat. Wenngleich man sicherlich Prestige-Gedanken hegte, dass man mit kreativen Menschen wie Chloé Zhao (Nomadland, Eternals) oder Taika Waititi interagiert, hat das wenig mit Scorseses Aussagen gemein.
Der Titel versucht darzulegen, dass Scorsese für den Kurswechsel von Marvel verantwortlich war. Anscheinend besitzt man bei Marvel wohl ähnlich wie in den Filmen die Möglichkeit zur Zeitreise: Wie sonst kann der Autor rechtfertigen, dass Waititi bereits 2017 beim angesprochenen Thor - Tag der Entscheidung als Regisseur eingesetzt wurde, obwohl Scorsese seine kontroverse Botschaft erst über zwei Jahre später unter die Menschen brachte. Der von Nicholson eingenommene Blickwinkel ist hier alles andere als stimmig. Gleichfalls versucht er in Form des Artikels, Scorsese auf ein Podest zu platzieren:
Natürlich besitzt Scorsese als Filmemacher einen anderen Blick auf das Medium. Zweifellos zählen dessen Beiträge mitunter zu den besten Werken, die man in Hollywood jemals hervorgebracht hat. Allerdings verrennt sich der Autor Nicholson mit seiner aktuellen Rüge des MCU-Kurses in blinder Gefolgsamkeit für den 79-jährigen US-Amerikaner.
Scorsese vertritt eine Auffassung, die das Superhelden-Kino als seelenlose Achterbahnfahrten zu klassifizieren versucht, das sich von den introspektiven Möglichkeiten des klassischen Filmhandwerks grundlegend unterscheidet. Er vergaß in seiner Stellungnahme allerdings zu erwähnen, dass das Attraktionskino seit Anbeginn des Mediums vorhanden war - man beachte etwa die Filmbeiträge der Brüder Lumière und von Georges Méliès. Ausufernde Effekte sind wesentliche Triebfedern der Schaulust.
Es sei noch einmal in aller Deutlichkeit betont: Der Autor dieses Artikels liebt Scorseses fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Ausnahmetalent Robert De Niro (Taxi Driver, New York, New York, Wie ein wilder Stier), hält Departed - Unter Feinden für eines der besten Remakes der Filmgeschichte und kann sogar mit dem schwermütigen Silence ganze Diskussionsabende füllen. Bei alledem wurden noch nicht einmal Leonardo DiCaprios grandiose Darbietungen in Shutter Island oder The Wolf of Wall Street erwähnt. Die Bewunderung für das außerordentliche Gespür von Scorsese bedeutet allerdings nicht, dass dieser Mann in sämtlichen Belangen unfehlbar, geschweige denn unantastbar ist.
Man darf und soll nichtsdestotrotz über die Gewichtung der effektheischenden Tendenzen Marvels streiten - wahrscheinlich muss man das sogar in Anbetracht der verschwenderischen, aber imposanten Effektgewitter des renommierten Studios. Weiterhin ist es selbstverständlich wichtig, die mitunter gefährlichen Verdrängungseffekte von Disney/Marvel anzusprechen, durch die kleinere Filme weniger zur Geltung gelangen. Allerdings geht es im Kino immer auch um unschuldigen Spaß und ein gemeinsames Erleben: Nach wie vor garantieren Marvel-Beiträge genau das. Zumeist nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Die anstehende San Diego Comic-Con dürfte den Schleier ein gutes Stück lüften, wohin die Reise für das von Marvel entscheidend mitgeprägte Superhelden-Genre hingeht und einige drängende Fragen zu Phase 4 beantworten.